Gute Wohnlage geht immer auch mit einer guten Aussicht einher, und so führt Wolfgang Rupprecht gleich als erstes auf den Balkon. "Wendelstein, Wallberg, Zugspitze, alles da", sagt er, "unverbaubarer Alpenblick." Es gibt Wohnviertel, deren Bewohner haben den Eindruck, dass sie sich ständig dafür rechtfertigen müssen, dass sie wohnen, wo sie wohnen. Neuperlach ist so ein Viertel. Zu hoch die Hochhäuser, zu monoton die Architektur, zu hässlich das Gesamtbild - so gehen die gängigen Klischees.
Rupprecht, überzeugter Neuperlacher seit fast einem halben Jahrhundert, hält gerne dagegen. Er steht also auf seinem Balkon, Gerhart-Hauptmann-Ring, elfter Stock, Blumenkästen mit Froschfiguren. "Die gängigen Meinungen über Neuperlach sind doch nur eine Summe von Vorurteilen aus den Anfangsjahren", sagt der 71-Jährige. So weit und schön die Aussicht, so gut die Infrastruktur, so praktisch die Anbindung an die Innenstadt - so geht Rupprechts Version vom Wohnen im Südosten. Blickt man von weiter weg auf die Trabantenstadt, sieht sie selbst aus wie ein Gebirge, eine Wohngebirgskette vor der Alpenkette.
Seine Eltern hatten einst mitten in München gewohnt, in der Nymphenburger Straße. Als das Haus gegen Kriegsende ausgebombt wurde, flüchteten sie nach Landshut, wo ihr Sohn Wolfgang geboren wurde. Von dort aus ging es als nächstes nach Freising, "in München herrschte damals noch eine Zuzugssperre". 1957 ergatterte die Familie eine Sozialwohnung in Obergiesing. Endlich waren sie wieder in München.
Aber München, das hieß: wenig Platz, vierter Stock, kein Aufzug, Ofenheizung. Und so stieß die Werbung des Wohnungsbaukonzerns Neue Heimat für die Siedlung am Stadtrand bei ihnen auf interessierte Ohren. Im Wohnzimmer kramt Rupprecht einen Band mit dem Titel "Entlastungsstadt Perlach in München" hervor. So wurde das Projekt damals genannt, der Name Neuperlach kam erst später.
Für 71 000 D-Mark kauften seine Eltern eine Wohnung in der Albert-Schweitzer-Straße, im April 1969 zog die Familie ein. Wolfgang Rupprecht war damals ein 23-jähriger BWL-Student, und Neuperlach war ein Neuanfang. Neuperlach, das hieß: Neubau, mehr Wohnfläche drinnen, mehr Grün draußen, Zentralheizung, Lift, Balkon.
Am Anfang stand es schlecht um die Infrastruktur
Was "nicht ganz so lustig" war, wie Rupprecht es ausdrückt: die Versorgungssituation. "Am Anfang gab es einen Markt und einen Supermarkt in einer Baracke." Doch 1970 wurde das erste Einkaufszentrum eröffnet. "Die Infrastruktur hat gut Schritt gehalten." Heute habe man sowieso alles, was man brauche: ein Krankenhaus, diverse Ärzte, mehrere Einkaufszentren. "Das einzige, was fehlt, ist ein Baumarkt." Kurze Pause. "Und noch ein Augenarzt."
Was die Verkehrsanbindung betraf, mussten die Neuperlacher mehr Geduld aufbringen. Bevor die Tram 1970 nach Neuperlach verlängert wurde, musste man am Michaelibad in den Bus umsteigen. "Als 1981 die U-Bahn eröffnet wurde, das war eine Mordserleichterung", erinnert sich Rupprecht. Davor habe er auf dem Weg zu seiner Arbeit bei Löwenbräu mit der S-Bahn jeden Tag "in der Röhre gesteckt".