Süddeutsche Zeitung

360-Grad-Drama:Vorwürfe im Raum

Das Staatstheater Augsburg hat "Oleanna" als Virtual-Reality-Stück inszeniert. Dabei kommt der Zuschauende dem Kampf zwischen einer Studierenden und ihrem Dozenten unangenehm nah

Von Christiane Lutz

"Einer muss immer leiden. Und bisweilen leiden wir alle. Ist es nicht so?" fragt Carol am Schluss. Da ist John schon völlig am Ende, ihm droht eine Anklage wegen Vergewaltigung. Carol hat den Kampf Dozent versus Studentin gewonnen. Nicht, weil sie recht hat, sondern weil sie sein Leiden erzwungen hat. Auge für Auge, scheint sie zu denken, wie es im Zweiten Buch Mose heißt. Um vermeintliche Gerechtigkeit geht es aber nicht in David Mamets Stück "Oleanna", sondern um Deutungshoheit und die Frage, wem zugehört wird. Klingt wie ein Stück zur "Me Too"-Debatte, der Text des amerikanischen Dramatikers ist aber schon 30 Jahr alt. Die Debatte ist aber sicher mit verantwortlich, dass das Stück derzeit auf vielen Spielplänen steht. Jetzt, wo überall genauer hingeschaut wird auf Macht und deren Missbrauch und wo eine lang fällige Neubewertung von sexistischem Verhalten oder gar sexualisierter Gewalt stattfindet. Am Staatstheater Augsburg hat Axel Sichrovsky "Oleanna - ein Machtspiel" 2019 inszeniert und nun als Virtual-Reality-Erlebnis neu aufgelegt.

Man steht also, die VR-Brille auf dem Kopf, mittendrin im Kampf zwischen der Studentin Carol (Katja Sieder) und ihrem Dozenten John (Andrej Kaminsky). Sie begegnen sich im ersten Akt in einer wunderschönen Bibliothek, bis zur Decke gefüllt mit Wissen. Carol hat nichts verstanden in Johns Seminar, ihre Arbeit fiel miserabel aus, verstört klammert sie sich an ihren Block. John redet pausenlos und leitet seine Sätze mit "Hören Sie" und "Sehen Sie" ein. Er ist gewohnt, dass man ihm Aufmerksamkeit schenkt. Er bietet Carol an, das Seminar privat zu wiederholen, sie sei ihm "sympathisch". Sein Telefon klingelt, seine Frau, der Vertrag für einen Hauskauf wartet, denn der Karriereschritt, eine Professur auf Lebenszeit, steht bevor.

Daraus wird nichts, denn Carol bezichtigt ihn nach diesem Gespräch des Machtmissbrauchs, sie reicht Beschwerde bei der Uni ein, schließlich wirft sie ihm versuchte Vergewaltigung vor. John strauchelt und fällt schließlich, fassungslos. Dass er offenbar jungen Frauen gern die Welt erklärt, dass er sich seiner Macht etwas zu sicher ist, wie er mit großen Gesten durch den Raum wandelt, das ist unangenehm, es ist sexistisch und elitär, aber keine Straftat, die ihn die Karriere kosten sollte.

Woher Carols Zorn kommt, lässt sich nur vermuten. Sie spricht von großer Anstrengung, die sie das Studium koste, von Demütigungen. "Wie Sie zwei Semester ausnutzen, was Sie für Ihr ,paternales Prärogativ' hielten, was ist das anders als Vergewaltigung!", beschließt sie. Sie macht aus ihren schlechten Erfahrungen also eine Täter-Opfer-Geschichte, im Wissen, dass von jetzt an ihr, dem vermeintlichen Opfer, zugehört wird. In dieser Deutungshoheit liegt, neben häufig sehr realem Schmerz, zweifelsohne wiederum eine Macht, derer sich Carol bedient, die sie missbraucht. Sie zwingt dem Zuschauer ihre Lesart der Ereignisse auf, an die sie möglicherweise selbst nicht glaubt. Wichtig ist, dass alles so sein könnte. Sie führt einen Kampf, stellvertretend für Frauen in unterlegenen Positionen, gegen John, stellvertretend für alle Männer in Machtpositionen.

Das VR-Theater im heimischen Wohnzimmer ist ein grundlegend anderes, als etwa ein Stream am Monitor. Es bedarf einer gewissen Hingabe ans Format, weil man mit Brille und Kopfhörer nichts anderes sieht und hört. Bei der "VR-Oleanna" fühlt man sich den Figuren auf diese Weise physisch sehr nah, was bisweilen unangenehm ist. Man ist Zeuge und hat doch keine Ahnung, was wirklich passiert ist. Der zweite Akt spielt in einem dunklen Verhörraum, der dritte auf einer Hühnerfarm, bei dem einem ganz real um die Füße gegackert wird. Das große Finale, bei dem Carol John vorführt. Jetzt redet sie, er ist nurmehr ein Gockel ohne Misthaufen.

Augsburg hat schon vor der Pandemie mit der Virtual-Reality-Technik gearbeitet. Jede VR-Inszenierung ist mit einer 360-Grad-Kamera gefilmt, somit besteht die Möglichkeit, den Blick zu bewegen, zwischen Sprechenden hin und her zu schwenken oder aus dem Fenster zu gucken. Inzwischen gibt es sechs VR-Produktionen, "Oleanna" ist die jüngste Ergänzung und ein großer Zugewinn, nicht nur in diesen Zeiten. Das liegt auch an der Aktualität des Textes und seiner Qualität. Beide Figuren sind herzlich unsympathisch. Dem Reflex, einem von beiden recht geben zu wollen, lässt sich widerstehen. Hier hat keiner recht, und es haben beide recht. Das Stück legt Machtstrukturen zwischen Lehrenden und Studierenden, zwischen Männern und Frauen offen und spielt die Möglichkeit zum Missbrauch der jeweiligen Machtposition aus. Das ist immer verwerflich und am Ende gewinnt damit niemand. Ein trauriger Befund vor allem über das Verhältnis zwischen Männern und Frauen, das heute noch mehr als 1992 von gegenseitigem Misstrauen geprägt ist.

Die Bibelstelle vom "Auge für Auge" wird übrigens oft missverstanden. Es geht bei ihr nicht darum, Gewalt mit Gewalt zu vergelten. Nein, sie ist ein Plädoyer für Fairness und Verhältnismäßigkeit im Ringen um Gerechtigkeit.

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Quelle:
SZ vom 21.01.2021
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