Süddeutsche Zeitung

25 Jahre Anonyme Alkoholiker:"Man braucht Druck, um trocken zu werden"

Lesezeit: 3 min

Ein Mitglied der Anonymen Alkoholiker spricht über den täglichen Kampf gegen die Sucht.

Interview: Katharina Ziegler

Vor 25 Jahren, im Juli 1980, hat die Kontaktstelle der Anonymen Alkoholiker (AA) in der Landwehrstraße eröffnet. Mehr als 60 AA-Gruppen gibt es heute in München, einige mit fünf, andere mit 35 Mitgliedern. Maria ist eines von ihnen. Mit dem Trinken angefangen habe sie mit Mitte 30, sagt die heute 63-Jährige. Mehr als zehn Jahre später, mit 48, wurde sie trocken. "Heute", sagt Maria, "geht es mir so gut wie noch nie in meinem Leben."

SZ: Sie möchten in diesem Interview nicht Ihren vollen Namen nennen. Wieso ist die Anonymität bei AA so wichtig? Maria: Es ist eine Erleichterung und auch ein Schutz. Denn: Alkoholiker fühlen sich leicht bedrängt, wenn sie sich outen müssen. AA will ihnen jede Möglichkeit geben, sich geborgen zu fühlen.

SZ: Die anonyme Gemeinschaft als Schutzraum? Maria: Ja, auf jeden Fall. Wir haben aber auch so genannte "offene Meetings", an denen Ärzte, Angehörige oder Interessierte teilnehmen können.

SZ: Neben den AA-Meetings gibt es die Kontaktstelle in der Landwehrstraße. Maria: Die Kontaktstelle ist unsere offizielle Anlaufstelle, wenn jemand Hilfe sucht. Mindestens drei "trockene" Alkoholiker sind jeden Abend von 19 bis 22 Uhr da und stehen Rede und Antwort. Auch telefonisch, unter der 55 56 85.

SZ: Hat sich die Arbeit über die Jahre verändert? Maria: Die eigentliche Arbeit besteht ja darin, dass wir da sind. Wir sagen, dienen heißt da sein, ob jemand anruft oder nicht, völlig egal, wir sind da. Aber wir haben zum Beispiel nicht mehr Jugendliche in den Meetings als früher - obwohl sie ja immer mehr trinken. Die jüngsten AAs sind Ende 20, die meisten kommen zwischen 40 und 50.

SZ: Was ist ein Alkoholiker? Maria: Ein Alkoholiker ist ein Mensch, der nicht aufhören kann. Mein ehemaliger Mann hat auch gern getrunken, sehr gepflegt: verschiedene Weine zum Menü. Das kann ich nicht. Er konnte sagen: So, das ist mein Quantum, jetzt trinke ich Mineralwasser. Ein Alkoholiker sagt das nie. Bei uns fehlt diese Bremse.

SZ: Dann trinken alle Alkoholiker extrem viel? Maria: Die Mengen, die ich im Laufe der Jahre in den Meetings gehört habe, sind ganz unterschiedlich: Das geht von drei Halben Bier am Tag bis hin zu zwei Flaschen Schnaps und noch ein paar Bieren.

SZ: Muss ein Alkoholiker ganz unten sein, um aufhören zu können? Maria: Nein. Manche haben einen hellen Moment, andere müssen wirklich bis zum Gehtnichtmehr. Aufhören kann man dann, wenn man den persönlichen Tiefpunkt hat, wenn man, wie wir es nennen, "kapituliert". Ein schrecklicher Zustand, wenn man merkt, dass es mit dem Alkohol nicht mehr geht, man sich ein Leben ohne aber auch nicht vorstellen kann. Das ist der Druck, den man braucht. Sobald ich das Zeug habe stehen lassen, ging es aufwärts.

SZ: Für Angehörige und besonders für die Kinder von Alkoholikern gibt es eigene Gruppen: Al-Anon und Alateen. Maria: Ja. Die Familie, die Angehörigen, die Freunde leiden entsetzlich unter dem, was da geschieht. Das muss dabei gar nicht in körperlicher Gewalt enden. Das große Dilemma für den Alkoholiker ist, dass alle in der Familie um ihn herumtanzen und machen, was er will. Alle sind besorgt, dass es ihm gut geht, das geht so weit, dass sogar Alkohol für ihn gekauft wird.

SZ: Die Angehörigen ermöglichen die Sucht? Maria: Sie verlängern sie, ohne es zu wollen und ohne es zu wissen. Ihr Leben dreht sich nur noch um den Alkoholiker, sie vernachlässigen sich selbst.

SZ: Inwiefern? Maria: Nicht, dass sie äußerlich heruntergekommen wären, aber: Da finden keine Spaziergänge, keine Feste, keine kulturellen Aktivitäten mehr statt, nichts. Auch die zwischenmenschlichen Beziehungen verarmen: Da geht ja keiner mehr hin in so einen Haushalt. Das war bei mir auch so. Alkoholiker merken das noch nicht einmal.

SZ: Sie sind, wie Sie sagen, seit 15 Jahren trocken. Warum gehen Sie immer noch zu den Meetings? Maria: Damit ich trocken bleibe. Trocken werden ist das eine, trocken bleiben das andere. Es ist so: Ich bin Alkoholikerin.

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Quelle:
SZ vom 30.7.2005
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