Süddeutsche Zeitung

Jahresrückblick:Magische Kulturmomente im Jahr 2022

Auch die Welt der Schönen Künste war 2022 geprägt von bitteren Pandemie-Erfahrungen. Umso strahlender, wohltuender und symbolkräftiger erschien jedoch mancher kleine Augenblick.

Von SZ-Autorinnen und -Autoren

Alles dreht sich

Mit dem Münchner Konzerthaus geht es auf und ab. Wer sich für das Thema interessiert, der kennt das Spiel. Als Markus Söder im Frühling verkündete, dass das längst Beschlossene nun angesichts von Krieg, Corona-Kassenleerstand und Teufel doch wieder hinterfragt werden müsse, haben jene wieder einmal feixend Oberwasser, denen das Projekt sowieso nicht passt. Doch dann war Sommer. Und im Werksviertel trafen sich all jene, die an dem Projekt schon seit Jahren arbeiten, und die es unvermindert und vertragsgemäß weiter tun.

Planerinnen, Beamte, Handwerkerinnen und Architekten. Zum Ende eines langen Tages, als die neuesten Sachstände, gelösten Fragen und kommenden Probleme ausgetauscht sind, gönnen sie sich ein gemeinsames Feierabendgetränk. Verteilt auf die Kabinen des Riesenrads, das sich dort dreht, wo das Konzerthaus einmal stehen soll, gleiten die Männer und Frauen lautlos durch das Abendrot, auf und ab, auf und ab, um sie herum die Silhouette der Stadt. Keiner ruft es laut, doch alle denken es: Das Konzerthaus ist tot? Ach, was. Es lebe das Konzerthaus! Susanne Hermanski

Kollektives Eintauchen

Nein, die Kinos haben sich noch nicht von der Pandemie erholt. Zwar gab es 2022 starke Besuchermagnete wie den internationalen Überflieger "Top Gun Maverick" oder das bayerische "Guglhupfgeschwader". Aber das Publikum zaudert noch. Umso überwältigender war das Gemeinschaftsgefühl bei der Eröffnung des 39. Filmfests München Ende Juni. 1500 Gäste kamen zusammen und machten aus der neuen Spielstätte Isarphilharmonie mal eben den größten Kinosaal Münchens.

Selbst wenn der eine oder die andere noch vorsichtig war und unter der Maske bei den scheinbar endlosen Corsage-Schnür-Szenen nur schwer atmen konnte - das kollektive Eintauchen in die kunstvollen Bilderwelten von Marie Kreutzers Arthouse-Drama "Corsage" war die Befreiung aus der cineastischen Lockdown-Isolation im ganz großen Stil. Wie Vicky Krieps als Kaiserin Elisabeth die ihr auferlegten Pflichten abschüttelte und auf der Riesenleinwand den Stinkefinger gegen das Establishment erhob, war man als Besucher in Versuchung, Corona endgültig den Stinkefinger zu zeigen. Bernhard Blöchl

Von der Stange

Die Bühne ist viel zu niedrig für eine Poledance-Stange. Um die Stripperinnen und deren Kopf müsste man sich Sorgen machen. Müsste. Aber dafür ist keine Zeit. Zu faszinierend ist es zu erleben, wie verschiedene Formen der Kunst und des Lebens an diesem Abend zusammenfließen. Für das Festival "Radikal jung" am Münchner Volkstheater hat Florian Fischer die Late Nights kuratiert, ein Programm um die Bühne herum mit Gesprächen, Dragshow, Spaziergang mit erotischer Initiation in die Umwelt und eben den "Stripperstories".

Die treten im Substanz auf, die Bude ist brechend voll mit quergemischtem Publikum. Noch kurz zuvor auf der Bühne im Volkstheater ging es um sexuelle Orientierung, Queerness, Homophobie in einer schrillen, artifiziellen und wilden Produktion aus Athen. Jetzt folgen Striptease und Stories von vier Frauen als bodennähere Auseinandersetzung mit Körper und Sexualität. Aufs Schönste halten sich die beiden gegensätzlichen Teile des Abends da einen Spiegel vor und verbinden sich zu einem satten, prallen Ganzen. Yvonne Poppek

Verzweifelt liebende Frau

Der 8. September war keiner dieser glühenden Sommertage, es war angenehm kühl, hatte sogar ein wenig geregnet. Im Richard-Wagner-Museum waren am Nachmittag nur wenige Leute unterwegs, um dort den Trickfilmhasen Bugs Bunny und Disneys Pinocchio als Wagner-Opern-Darsteller zu bestaunen. Bayreuth lag in jener gelassen fränkischen Lethargie, die da heißt: Nach den Festspielen ist vor den Festspielen, aber etzala mach ma amol a weng langsamer, gell. Doch so ganz hatte sich das internationale Publikum noch nicht aus der Stadt verabschiedet, noch waren sie da, die Freunde Alter Musik, die das Festival Bayreuth Baroque seit 2020 ins Markgräfliche Opernhaus lockt.

Dort also, vor dem Weltkulturerbe, warteten sie nun an diesem Abend auf den Konzertbeginn, mit Gelato von der nahen Eisdiele "Opera" versorgt. Drinnen sollte dann etwas Wunderbares geschehen, Jeanine De Bique, Sopranistin aus Trinidad und Tobago, und das Originalklang-Orchester Concerto Köln verzauberten den Saal mit Arien von mutigen, verzweifelt liebenden Frauen wie Cleopatra. Einfach magisch. Und sogar dokumentiert und nachzuhören in der ARD-Mediathek. Jutta Czeguhn

Was wir uns erzählen

Alles Erzählen begann einst mit Geschichten, die Menschen einander am Lagerfeuer weitergaben. Geschichten, mit denen sie an die Ahnen erinnerten, sich die Gegenwart erklärten, sich wärmten. Heute nennt sich so ein Lagerfeuer vielleicht Literaturfest. Es war in diesem Jahr in München besonders intensiv; für immer festgesetzt im Gedächtnis haben sich insbesondere zwei Abende. Einer der Erinnerung: die Kammeroper "Stus: Der Vorübergehende" im Ampere, in der die ukrainische Sängerin Sofia Baskakova in einem so betörenden wie erschütternden Klagegesang das Schicksal des Dichters Wassyl Stus fühlbar machte.

Und einer der Gegenwart: als Artem Tschech und Artem Chapeye in der Bibliothek des Literaturhauses lasen und erzählten (übrigens hervorragend simultan übersetzt). Hier öffneten sich diese ukrainischen Schriftsteller, die im Krieg zu Soldaten geworden sind, in unerwarteter Weise; reflektiert, klug, überraschend weich. Vielleicht war das nur möglich an einem Ort wie dieser freundlichen Bibliothek, dicht umringt von Büchern und von Menschen. Ein geschützter Erzählraum. Ein wärmendes Lagerfeuer. Antje Weber

Persönchen mit Power

Es ist immer etwas Besonderes, wenn ein Künstler oder eine Künstlerin zur Eröffnung der eigenen Ausstellung anreist. Wenn eine Künstlerin aber wie im Fall Joan Jonas bereits 86 Jahre alt ist und den weiten Weg aus den USA mehrfach nicht scheut, dann ist das etwas ganz Besonderes. Das Überraschendste bei den Besuchen von Joan Jonas im Haus der Kunst aber war, dass diese zierliche kleine Frau mit dem halblangen Bob und den an Kleinmädchen-Accessoires erinnernden Spangen im weiß leuchtenden Haar mit dunkler, kraftvoller Stimme sprach und sich am Ende der von ihr konzipierten Performances mit schnellen Bewegungen zwischen den Tänzern bewegte, ja hindurchwuselte, als ob sie nicht bald 90, sondern gerade mal neun Jahre alt wäre.

So wurden die Besuche und die Künstlergespräche neben der herausragenden Ausstellung - die eigentlich schon für 2018 geplant war und dann um vier Jahre verschoben worden war - zu wirklich unglaublichen Ereignissen. Dass Goldene-Bar-Chef Klaus Stephan Rainer für die Preview der Haus-der-Kunst-Freunde extra ein Getränk kreiert hatte, das auf Wunsch von Joan Jonas ziemlich kraftvoll und rau anmutete, passte zudem wie das berühmte Tüpfelchen auf dem i. Evelyn Vogel

Pure Ekstase

Ja, es ist wieder oft sehr voll in der Unterfahrt. Und die besten Jazzer der Welt geben sich wieder die Klinke in die Hand. Aber irgendwie ist es selten wie früher. Die düstere Corona-Zeit hängt nach wie vor in den Köpfen und in den Klamotten; meist ist vergleichsweise früh Schluss und das Nachglühen selten so gesellig wie einst. Ein Abend im Wonnemonat Mai freilich hob die Zeit auf.

Das amerikanische Septett Ghost Note aus dem Snarky-Puppy-Dunstkreis überrollte den Saal mit einem Funk 2.0 zwischen Coolness und Eskapismus, zwischen purer Power und filigranen Finessen, zwischen solistischem Glanz und messerscharfem Miteinander. Lange, sehr lange ging es, am Ende standen und tanzten alle im Saal. Pure Musik-Exstase. Wie man sie von früher kannte und wie man sie hoffentlich wieder öfter erleben darf. Oliver Hochkeppel

Kunstvoll abhängen

Wie Spider-Man zu Besuch beim Christopher Street schwangen sie sich noch kurz zuvor bunt gewandet in 60 Meter Höhe an der Fassade des BMW-Zylinderkopf-Hochhauses entlang. Atemberaubend - aber eine leichte Aufgabe verglichen mit der, einem Reporter ihr Handwerk beizubringen: die Kunst des Vertikaltanzes. Die amerikanische Artisten-Truppe Banadaloop hatte zum Workshop im Gasteig HP8 gebeten, Tänzer aus München und eben einen Journalisten.

Der Blick auf Dutzende Schnitte an den Händen der Tänzerinnen und Tänzer machte es nicht einfacher; viele vertrauensvolle Gespräche schon eher; vor allem das mit Hans, "Hollywood-Hans", der beim Nachhaken ob seiner Ausbildung zum "Rigger", also Seil-Sicherheitsmann, ein Buch aus der Tasche kramte über seinen Weltrekord beim Speed-Freiklettern am El Capitan im Yosemite Park. So ging's endlich hinauf, drei Meter zumindest, fest am Gurt baumelnd, den Blick wie befohlen nicht in den Abgrund gerichtet, sondern auf die Wand und dann hinauf zum Glasdach des Isarphilharmonie-Foyers - die Kunst des Abhängens. Michael Zirnstein

Küsse zum Abschied

Es war ein Auftritt ganz im Lemke-Style: "Kunst kommt von Küssen" stand auf dem Schild, das der Regisseur zur Premiere seines neuen Films brachte. Und geküsst wurde an diesem schönen Juni-Abend viel, die Pandemie machte gerade eine kleine Pause, das Filmfest motivierte die Münchnerinnen und Münchner zum Ausgehen, der große Saal des City-Kinos war voller junger Leute. "Champagner für die Augen, Gift für den Rest" hieß der neue Film von Klaus Lemke, er blickte darin nicht nach vorne, sondern ausnahmsweise zurück, auf das München der Siebzigerjahre und seine Filme mit Sylvie Winter oder Cleo Kretschmer.

Lemke wirkte etwas angeschlagen, posierte aber mit schiefem Grinsen für die Fotografen und gab ein paar Sätze über die Liebe, das Leben und das Kino zum Besten. So wie immer eigentlich. Nur war es das letzte Mal: Zwei Wochen später starb der ewige Cowboy, und der deutsche Film ist seitdem um einen seiner originellsten und unangepasstesten Vertreter ärmer. Josef Grübl

Zauberhaft geschrumpft

Dass einem in Alexander Krists Show "The World's greatest Magic" im wortwörtlichen Sinne magische Momente präsentiert werden, ist erwartbar. Und dennoch verschlägt einem seine jüngste Illusion schier den Atem - denn die war bei der Eröffnung seines Zauber-Theaters am Fuße des Olympiaparks im August 2021 noch nicht zu sehen: Krist legt sich in voller Größe in eine Maschine, die dann von den Enden her langsam zusammengefahren wird - und schrumpft auf ein Miniaturformat zusammen. Für die Zuschauer sind so nur noch seine winkenden Hände und zappelnden Füße zu sehen, der Rumpf ist verschwunden.

Eine magische Illusion der Extraklasse, zu der ihn unwissentlich sein Vater anspornte, wie er im Anschluss amüsiert dem Publikum erzählt. Denn seinerzeit bewerteten die Besucher der Premiere seine Show im Internet mit fünf Sternen. Eine Ausnahme machte ausgerechnet sein 82-jähriger Vater: Der gab ihm nur vier Sterne (besagter Eintrag wird für die Zuschauer auf die Leinwand gebeamt). Als der Sohn ihn etwas irritiert nach der Begründung fragte, lautete die Antwort: "Das kannst du noch besser!". Was Krist einige Monate später auf spektakuläre Weise beweist. Barbara Hordych

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