20 Jahre Lichterkette in München:400.000 Kerzen gegen rechte Gewalt

Ein Tag im Dezember, der vieles veränderte: Am Nikolaustag vor 20 Jahren zündeten in München 400.000 Menschen eine Kerze gegen Rechtsextremismus an. Es war die bislang größte Demonstration gegen Ausländerhass in Deutschland. Jeder, der damals dabei war, kann sich genau daran erinnern, wo er war.

Von Detlef Esslinger

Und, hat's was gebracht? Wenn Eltern wählen können, schicken sie ihre Kinder lieber auf eine Grundschule, in der sie nur wenige Altersgenossen ausländischer Herkunft treffen. Eine Berliner Studie hat das gerade erst wieder gezeigt, und es gibt bestimmt Menschen, die das für sehr bedenklich halten. Zumal fast jeder zehnte Deutsche rechtsextrem denkt, jedenfalls, wenn man der Studie glaubt, die die Friedrich-Ebert-Stiftung im November herausgebracht hat. Und gab es nicht, in der Kleinstadt Mölln, jahrelang Streit um die Frage, wie man des Mordanschlags auf zwei türkische Familien im November 1992 würdig gedenkt?

Es gibt Ereignisse, an die erinnert man sich sein Leben lang. Fast alle Erwachsenen wissen noch sehr genau, wo sie am 9. November 1989 waren oder wo sie von den Anschlägen des 11. September 2001 erfahren haben. Sofern es sich um Menschen aus München handelt, gibt es noch einen weiteren Tag, über den die meisten sehr präzise Auskunft geben können: Wo waren sie am 6. Dezember 1992 zwischen 17 und 17:30 Uhr?

Der eine weiß, dass er an der Ludwigstraße stand, vor dem Haupteingang der Uni. Der nächste berichtet, dass er in Walpertshofen in die S 2 stieg, dass die Bahn nur einen Kurzzug eingesetzt hatte, wie sonntags immer. Komplett überfüllt, aber niemand schimpfte, an dem Tag waren alle friedlich und beschwingt. Eine Frau erinnert sich, wie sie nach Münster musste, zu ihrem Freund, weil der eine Ausstellungseröffnung dort hatte. Sie aber fühlte sich absolut am falschen Ort. Die Münchner Lichterkette hat selbst diejenigen geprägt, die nicht dabei waren. Also, was hat's gebracht?

Demonstrationen gehören zur Demokratie wie der Nikolaus zum Nikolaustag. Aber weil es sie so oft gibt, weil sie - was Teilnehmer und Parolen betrifft - oft so gar nicht überraschen, sind sie hinterher meistens schneller vergessen als vorher organisiert. Die Münchner Lichterkette jedoch war anders; ebenso wie die Lichterketten, die es kurz darauf in Hamburg, Essen und Nürnberg gab.

Lichterkette Aktion gegen Fremdenhaß

Senta Berger (Mitte), eine unter vielen: 400 000 Menschen zündeten 1992 eine Kerze gegen Rechtsextremismus an.

(Foto: picture-alliance / dpa)

Demonstration der Stille

Es war eine Demonstration, die eine Kundgebung mit Reden ausdrücklich nicht enthielt, es war eine Demonstration der Stille: 400.000 Menschen standen an jenem Nikolaustag 1992 in der Dämmerung an den Straßen der Innenstadt jeder eine Kerze in der Hand, eine halbe Stunde lang. Und es war eine Demonstration, in der es ausdrücklich nicht darum ging, irgendwelche politischen Forderungen zu proklamieren, zum Beispiel eine Position zur aufgeregten Asyldebatte jener Tage zu entwickeln.

Denn in dem Fall wären ja doch nur diejenigen gekommen, die immer zu Demos gehen. Diese Demonstration sollte aber auch dadurch überraschen, dass sie für die meisten Teilnehmer ihr erstes Mal bedeutete. Sie war ein Statement, nichts anderes: 400.000 Menschen protestierten dagegen, dass im Deutschland Anfang der Neunzigerjahre Asylbewerber und ihre Heime überfallen, dass jüdische Friedhöfe geschändet wurden. 400.000 Menschen brachten zum Ausdruck, worin sich eine Gesellschaft in ihrer Gesamtheit doch bitte einig sein sollte, egal, welche Weltanschauungen, Glauben und Interessen deren Mitglieder sonst trennen mögen: dass niemand in einem Land daheim sein kann, in dem Menschen attackiert werden, nur weil einigen deren Herkunft nicht passt.

Nicht mehr so wichtig: das Image im Ausland

Wer zwischen den Fünfziger- und Achtzigerjahren groß geworden ist, der erinnert sich bestimmt, unter welchem Aspekt immer gern über den Urlaub im Ausland berichtet wurde: wie "deutschfreundlich" denn die Einheimischen in Italien, Holland oder Spanien gewesen seien. Zur Hinterlassenschaft der NS-Herrschaft gehört, dass viele Deutsche immer auch um Vergewisserung bemüht sind; um wenig sind sie so besorgt wie um die Frage, wie denn ihr Ansehen in der Welt ist.

Lichterkette München, 1992 | Candle-lit demonstration against racism in Munich, 1992

Leuchten bis an den Rhein: In München stehen Menschen auf der Straße, in Bonn diskutieren Politiker den Asylkompromiss.

(Foto: Sueddeutsche Zeitung Photo)

So war das auch Anfang der Neunziger. Helmut Kohl, und das ist wirklich nur exemplarisch gemeint, fiel in seinen Memoiren zum Mordanschlag von Solingen 1993 als Allererstes die "Belastung im Verhältnis zwischen Deutschland und der Türkei" ein. In Solingen verloren fünf Menschen ihr Leben. Bei der Lichterkette ging es nicht um Image. Es ging darum, in was für einem Land die Deutschen eigentlich leben wollen.

Als Manifestation der Gesellschaft hat die Lichterkette das Land verändert. Hinter diese Manifestation konnte niemand mehr zurück. Sie hat dem damals durchaus wabernden Eindruck den Boden entzogen, wer Migranten angreife, der tue das mit heimlicher Sympathie der Mehrheitsgesellschaft. Im Gegenteil, vielen Menschen wurde im Zuge des Gemeinschaftserlebnisses klar, dass mit diesem 6. Dezember auch ein Auftrag verbunden war: sich ernsthaft zu kümmern um die Menschen, die das Schicksal in diesen Teil der Welt verschlagen hat. All die Initiativen, die Deutschunterricht, Gewaltverhütung, Stipendien oder Sport mit Migranten anbieten, wissen seitdem: Was wir tun, finden alle gut. Und dafür zu spenden, da womöglich sogar mitzumachen, ist chic.

Wenn die Kommunikation schiefläuft

Lichterkette München, 1992 | Candle-lit demonstration against racism in Munich, 1992

400.000 Menschen haben sich an der Lichterkette gegen ausländerfeindliche Ausschreitungen beteiligt.

(Foto: Sueddeutsche Zeitung Photo)

Den idealen Zustand erreicht eine Gesellschaft wahrscheinlich nie, im günstigsten Fall macht sie ein paar Fortschritte. Heute wissen viel mehr Migranten als vor 20 Jahren, wie wichtig es ist, Deutsch wirklich zu beherrschen - aber immer noch wenig genug, dass viele deutsche Eltern ihre Kinder lieber auf Schule schicken, an denen es nicht so viele Migrantenkinder gibt. Diese Eltern sind alles andere als rassistisch. Sie wollen für ihre Kinder nur legitimerweise das Beste.

Wenn es in Mölln Jahr für Jahr eine Gedenkfeier für die drei Ermordeten gibt, ist das aller Ehren wert. Wenn aber zugleich ein Überlebender öffentlich die Meinung äußert, dabei jahrelang als Statist behandelt worden zu sein, muss in der Kommunikation etwas furchtbar schiefgelaufen sein. Und wenn Rechts-Terroristen über Jahre hinweg Menschen ermordeten, nur weil sie türkischer oder griechischer Herkunft waren, dann kann man sich hernach aufregen über Beamte, die nicht auf Rechtsextreme kamen, wohl aber über einen kriminellen Hintergrund bei den Opfern phantasierten.

Es ist praktisch, wenn man Behördenversagen als Grund des Übels anführen kann. Das hat etwas Entlastendes. Vielen Migranten jedoch war eine solche Debatte zu administrativ, zu technisch. Sie schalteten ab, als es vor allem um die Frage ging, welcher Beamte wann welche Dämlichkeit begangen hat. Und nicht mehr darum, dass doch im Grunde kein Mensch, nicht einmal ein einstiger Teilnehmer der Lichterkette, immun ist gegen den perfiden Gedanken: Was haben die Opfer denn angestellt, dass sie so umgebracht wurden?

Detlef Esslinger ist Vorstandsmitglied des Vereins Lichterkette.

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