Es begann in einem kleinen Dachgeschoss im Lehel. Da saßen sie zusammen, Michael Brenner, frisch berufener Professor an der Ludwig-Maximilians-Universität (LMU), und seine ersten Studenten. Brenner hatte gerade den neuen Lehrstuhl für Jüdische Geschichte und Kultur angetreten, den ersten seiner Art in Deutschland. Die Räume aber waren eine Zwischenlösung, nicht mehr: Das Historische Seminar gab es an der LMU damals noch nicht, die Historiker waren verstreut, arbeiteten unter anderem hier an der Wagmüllerstraße. Und auch Tische und Stühle hatte Brenner noch nicht, die Seminarteilnehmer hockten zunächst auf dem Fußboden. "Wir sind dann zu Ikea gefahren und haben erst einmal Möbel eingekauft", erzählt Brenner. Ein paar weitere habe er aus dem Möbellager der Universität erhalten. So sei das gewesen. "Es war schon eine Aufbruchstimmung."
20 Jahre sind seitdem vergangen, Brenners Lehrstuhl feiert an diesem Donnerstag Jubiläum. Jenem Dachgeschoss im Lehel ist er längst in jeder Hinsicht entwachsen, er ist zu einem renommierten Zentrum für die Erforschung der jüdischen Geschichte geworden. Es hat sich überhaupt vieles verändert, seit Brenner an der Wagmüllerstraße auf dem Fußboden saß. Die Geschichtswissenschaftler der LMU haben seit 1999 ihr Historicum, ein Zentrum an der Schellingstraße, in dem sie alle Platz finden. Und Brenner, der mit seinen gerade einmal 33 Jahren damals der Junior unter den Geschichtsprofessoren der Universität war, ist mittlerweile der dienstälteste Professor im Historischen Seminar.
Wie wird einer mit 33 Jahren Lehrstuhlinhaber? Vielleicht dadurch, dass er viel Erfahrung im Ausland gesammelt habe, sagt Brenner. Für jemanden, der sich in seiner Studentenzeit auf jüdische Geschichte konzentrieren wollte, gab es im Grunde kaum eine Alternative zum Ausland.
Brenner lädt in sein Büro im ersten Obergeschoss des Historicums. Schon als Schüler, damals in Weiden in der Oberpfalz, habe er sich in die jüdische Geschichte vertieft, erzählt er. Die Eltern waren beide Holocaust-Überlebende, und er sei mit dem eigentümlichen Gefühl aufgewachsen, nicht selbstverständlich dazuzugehören, noch eine weitere Identität zu haben. Anfeindungen habe er nicht erlebt - eher schon, dass ihn Ältere bevorzugt behandelten. Und in seinem Gymnasium sei er der einzige jüdische Schüler gewesen, sagt Brenner. Wenn seine katholischen und evangelischen Mitschüler Religionsunterricht hatten, spielten die übrigen miteinander Fußball: Brenner, ein neuapostolischer Christ, ein Muslim und ein Bekenntnisloser.
Die jüdische Geschichte entdeckte Brenner in der zehnten Klasse für sich. Damals gewann er den Geschichtswettbewerb des Bundespräsidenten mit einer Arbeit über frühere Weidener Juden. Er besuchte dafür Emigranten in England, andere traf er in Israel. Dort, in Jerusalem, verbrachte er später mehrere Studienjahre. In Deutschland habe man jüdische Geschichte damals nur in Heidelberg studieren können, und das nur eingeschränkt, sagt er. Also ging er von dort erst nach Israel und später zur Promotion nach New York an die Columbia University. Wobei ihn nicht nur die Universitäten ins Ausland gezogen hätten, sagt Brenner. Da sei auch der Wunsch gewesen, als Jude Normalität zu erleben.
Nach Deutschland zurückzukehren, das hatte Brenner damals eigentlich nicht vor, er fand Stellen an amerikanischen Universitäten. Doch als er von dem neuen Münchner Lehrstuhl erfuhr, habe er sich trotzdem beworben, "ich hatte ja nichts zu verlieren" - just dann, als er gerade mehrere Arbeiten publiziert hatte. Dass er tatsächlich einen Ruf aus München erhalten würde, damit habe er nicht gerechnet, sagt er. "Die meisten Kollegen in der Fakultät waren ja 20 Jahre älter als ich." Und doch sei er sehr freundlich aufgenommen worden.
In München hatte es zuvor schon mehrere Jahre lang den Wunsch nach einem ordentlichen Lehrstuhl für die Disziplin gegeben. Seit 1982 gab es hier eine Gastprofessur für jüdische Geschichte, die im zweijährigen Turnus für jeweils ein Semester vergeben wurde. 1996 dann gab der Unternehmer Nikolaj Kiessling Geld, um aus ihr einen ordentlichen Lehrstuhl zu machen. "Es war die Zeit, in der dieses Thema jüdische Geschichte auch in der Öffentlichkeit einen großen Stellenwert hatte", sagt Brenner. Jüdische Museen wurden damals gegründet, auch über das Berliner Holocaust-Mahnmal wurde bereits diskutiert. Und es sei bewusst geworden, dass es in Deutschland an akademischen Einrichtungen mangelte, um die jüdische Geschichte in Europa zu erforschen, nicht nur den Holocaust, sondern die vielen Jahrhunderte und Jahrtausende zuvor. "Die zwölf Jahre von 1933 bis 1945 sind wichtig", sagt Brenner. "Aber sie sind nicht alles."
Von Anfang an habe er versucht, diesen Horizont zu weiten, sagt Brenner. Am Lehrstuhl wurden Themen aus Amerika behandelt, aus Israel oder auch aus dem mittelalterlichen Spanien, es gab Lehrveranstaltungen zu jüdischem Sport oder jüdischem Humor oder auch eine Tagung zu 2000 Jahren jüdischer Geschichte in Italien. "Ich wollte Neugier wecken", sagt Brenner. Und das sei auch gelungen.
Der heutige Lehrstuhl deckt ein breites Spektrum ab, von der jüdischen Geschichte in Deutschland über die Geschichte Israels bis hin zu den Beziehungen zwischen Judentum und Islam. Bereits seit 2000 wird der Lehrstuhl durch einen Freundeskreis gefördert; seit 2003 finanziert der Versicherungskonzern Allianz eine Gastprofessur für Jüdische und Islamische Studien, die renommierte Forscher für ein Semester nach München bringt. Die Zukunft der Professur sei zwar gerade unsicher, sie habe aber viel bewirkt, um beide Perspektiven zusammenzuführen, sagt Brenner. Eine weitere Gastprofessur wird seit 2014 vom Washingtoner Israel-Institut finanziert und ist der Geschichte, Gesellschaft und Kultur Israels gewidmet. Gemeinsam mit Instituten anderer Universitäten veranstaltet der Lehrstuhl jährlich eine Sommeruniversität für Jüdische Studien in Hohenems in Österreich. In München können Studierende Kurse in Jiddisch und Neuhebräisch belegen. Seit 2009 ergänzt eine Professur für Mittelalterliche Jüdische Geschichte den Lehrstuhl, der sich mehr auf die jüngere jüdische Geschichte konzentriert. Und seit 2015 besteht an der LMU ein Zentrum für Israel-Studien. Brenner hat es nach dem Vorbild des Centers for Israel Studies der American University in Washington D. C. eingerichtet, das er seit 2013 als Direktor leitet. Das Münchner Zentrum soll einen Raum bieten für die Zusammenarbeit verschiedener Fachdisziplinen und für den akademischen Austausch. Und Brenner hat sich noch mehr vorgenommen.
Derzeit arbeite er an einem Master-Studiengang, den er gemeinsam mit der Professur für Judaistik in der Fakultät für Kulturwissenschaften anbieten wolle, sagt er. Bis dahin werde es noch etwas Zeit brauchen. Wenn er sich aber etwas wünschen dürfe, dann sei es eine Poetik-Gastprofessur für hebräische Literatur, sagt Brenner. Gerne würde er israelische Schriftsteller nach München einladen. Das Interesse sei ja längst groß: In keine andere Sprache werde derart viel hebräische Literatur übersetzt wie ins Deutsche.
In der Vergangenheit hat Michael Brenner nicht nur Schriftsteller eingeladen, sondern auch deutschsprachige jüdische Wissenschaftler, die in der Zeit des Nationalsozialismus emigrieren mussten. Das sei ihm wichtig gewesen, sagt er. Und fachlich habe er ja gute Argumente: Die Bayerische Staatsbibliothek etwa biete eine herausragende Judaica- und Hebraica-Sammlung, darunter eine einzigartige mittelalterliche Abschrift des Talmud. "In Gesprächen mit Forschern ist das ein Pfund", sagt Brenner. Und die Vorbehalte gerade unter älteren jüdischen Forschern, Deutschland zu besuchen, das Land der Täter, die gebe es zwar noch, aber nur noch selten. Und dazu habe auch der Lehrstuhl beigetragen.
Denn die Gründung des Lehrstuhls vor 20 Jahren war auch ein politisches Signal. "Dass die LMU diesen Lehrstuhl eingerichtet hat, das hat gerade die älteren Forscher damals überzeugt, dass hier seit 1945 wirklich etwas passiert ist", sagt Brenner. Dass jüdische Forscher aus den USA oder Israel zu einer Tagung nach Deutschland reisen wollen, dass sei damals außergewöhnlich gewesen. Heute sei es wieder normal.