Trauerfeiern:Die Stärke der ritualisierten Trauer

Trauerfeiern für die Amok-Opfer machen die Toten nicht wieder lebendig. Aber sie sind ein starkes Signal der Menschlichkeit gegen Gewalt und Hass.

Kommentar von Matthias Drobinski

Der öffentliche Tod ist über München gekommen, gewaltsam und gnadenlos, zehn Menschen hat er mitgenommen. Die ganze Stadt war Zeugin, gefangen in der Angst, die dieser öffentliche Tod verbreitet hat. Es wird ja weitgehend privat gestorben heutzutage, die Beerdigungen finden im engsten Kreise der Familie statt; von Beileidsbesuchen bittet man abzusehen.

Umso verstörender ist es, wenn auf einmal quasi live übertragen wird, wie ein Achtzehnjähriger einfach Menschen erschießt, wie die Leute in Todesangst rennen. Man hat - wie zuvor die Menschen in Paris, Nizza, Ankara - Angst um jene, die man liebt; die einen lieben, haben Angst um einen. Die Traumatisierung verliert die Grenzen, wird kollektiv und unausweichlich, auch jenseits der Rationalität.

Die Rituale der Trauer sind der Versuch, dem Unfassbaren eine Form, eine Zeit und einen Ort zu geben, damit das Leben wieder fassbar wird; je weniger fassbar ein Geschehen erscheint, umso wichtiger werden diese Rituale. Die öffentlichen Tode mit ihren kollektiven Traumatisierungen haben in den vergangenen 20 Jahren neue Formen der öffentlichen Trauer und ihrer Bewältigung hervorgebracht: Seit Lady Dianas Unfalltod 1997 ist es Brauch geworden, die Orte des Todes mit Blumen und Kerzen in ein säkulares Heiligtum zu verwandeln; es gibt Gedenkorte im Netz; es gibt seit dem Anschlag auf die Satirezeitschrift Charlie Hebdo das millionenfach geteilte Bekenntnis als Form der Anteilnahme und Selbstvergewisserung: Da ist es noch, das Leben.

Für die Angehörigen, die tatsächlich einen nahen Menschen verloren haben, ist diese Anteilnahme nicht immer einfach zu ertragen: Wo bleibt ihr unmittelbares Leid inmitten der allgemeinen Leidbekundung?

Das zentrale Trauerritual wie das in der Münchner Frauenkirche und dann im Landtag ist Teil dieser öffentlichen Bewältigungskultur. Der Bundespräsident kommt und die Kanzlerin; es beten der Kardinal und der evangelische Landesbischof, Vertreter der muslimischen und der jüdischen Gemeinde. Später, im Landtag, redet der Präsident, und man denkt: Es hätte, wenn nun einmal die meisten Opfer Muslime sind, auch einen muslimischen Redner geben sollen. Strittig bleibt, ob man bei einem solchen Anlass in einer christlichen Kirche der Opfer gedenken soll, die nicht alle christlich oder gläubig waren - doch es ist nun mal der Zeichenvorrat des Trauerns auch in einer säkularen Gesellschaft überraschend religiös.

Man kann ja insgesamt fragen, was der Sinn eines solchen teils religiösen, teils zivilreligiösen Rituals sein soll: Es macht die Toten nicht wieder lebendig, es erklärt nicht, wie es zu der Tat kam und wie sie künftig verhindern werden könnte. Und auch die alte Funktion von öffentlichen Trauerritualen, den Zorn des weinenden Volkes auf den - vermeintlichen - Feind zu wecken, hat sich zum Glück verflüchtigt. So gesehen haben diese Rituale immer etwas Zweckloses.

Der Gegenentwurf zu allen Aufrufen zur Rache

Aber gerade in diesem Zwecklosen liegen Sinn und Stärke des Trauerrituals. Es ist der Ort, an dem die vielen Erklärungen Pause haben, weil sie am Ende doch nichts erklären. Ein Ritual bleibt ohne Fragen und Antwort, es urteilt und verurteilt nicht, es bildet eine Gemeinschaft, bei der die Zugehörigkeit nicht ausdiskutiert werden muss. Die öffentliche Trauer ist deshalb gerade im Verzicht auf die Antwort ein zutiefst menschlicher und zivilisierender Vorgang. Sie ist der Gegenentwurf zu allen Aufrufen zur Rache, sie kämpft um jene Menschlichkeit, die der Gewalt- und Attentäter zuschanden gemacht hat.

Und tatsächlich gehören die Stunden der gemeinsamen Trauer zu den stärksten Momenten des Republikanismus, der Demokratie, der Zivilität in der Geschichte der Bundesrepublik: ob 1972 nach dem Olympia-Attentat oder 1977 nach dem Mord an Arbeitgeberpräsident Hanns Martin Schleyer durch die RAF, beim Gedenken an die Opfer der Amokläufe von Winnenden und Erfurt (wo sich 100 000 Menschen auf dem Platz vor dem Dom versammelten) bis hin zur öffentlichen Trauer um die Toten des Germanwings-Absturzes im vorigen Jahr - und nun der um die Opfer von München. "Wir werden bleiben, was wir sind: eine mitmenschliche, solidarische Gesellschaft", sagt Bundespräsident Gauck. Das ist die Botschaft der gemeinsamen Trauer über all die Jahrzehnte hinweg.

Und dann ist's aus, die Musik spielt ein bisschen, Präsident und Kanzlerin eilen zurück nach Berlin, die ersten Blumen lassen matt die Köpfe hängen. Der Schmerz der Eltern, Geschwister, Verwandten der Ermordeten wird bleiben, die Lücke, das Vermissen. Der öffentliche Tod aber hat seinen Ort gefunden, sein Schrecken kann Geschichte werden. Das öffentliche Leben hat den Atem angehalten. Jetzt kann es weitergehen.

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