Suchtkranke:"Vorwürfe machen sich diese Eltern selbst genug"

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Keine Vorwürfe, sondern Hilfestellung: Sigfried Gift leitet die Abteilung für suchtspezifische Angebote beim Verein Condrobs. (Foto: Stephan Rumpf)

Wenn Eltern abhängig von Drogen oder Alkohol sind, leiden vor allem die Kinder darunter. Ein Verein will Familien helfen, das Leben gemeinsam in den Griff zu kriegen.

Interview von Inga Rahmsdorf

In Deutschland haben 2,6 Millionen Kinder alkohol- oder drogenabhängige Eltern. Oft bleibt ihr Leid unerkannt, weil sie Mutter und Vater beschützen und sich loyal verhalten wollen. Die Münchner Hilfenetzwerke beteiligen sich an einer bundesweiten Aktionswoche, die bis 16. Februar auf die Bedürfnisse dieser Kinder aufmerksam machen will. Sigfried Gift, 53, ist Sozialpädagoge und Leiter der Abteilung für suchtspezifische Angebote beim Verein Condrobs, der Anfang April das Projekt "Sicher wachsen in München" (SwiM) startet. Es unterstützt Familien mit Suchtproblemen.

SZ: Die Mutter eines Klassenkameraden des eigenen Kindes hat regelmäßig eine Alkoholfahne. Ihr Sohn macht aber keinen verwahrlosten Eindruck. Wie sollte man damit umgehen?

Sigfried Gift: Um Kindern von Eltern mit Suchtproblemen zu helfen, ist es am wirksamsten, dass die Kinder noch eine zusätzliche Bezugsperson zur Familie haben. Daher ist es in so einem Fall immer gut, wenn dieses Kind zum Freund Ihres eigenen Kindes wird und so eingebunden ist in ein System von Beziehungen. Wenn die Eltern überfordert sind, kann jede soziale Einbindung das Problem schon mildern. Und den Kindern helfen, auch ein normales Kinderleben zu führen.

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Also nicht den Betroffenen ins Gewissen reden, damit sie etwas ändern?

Vorwürfe machen sich diese Eltern selbst genug. Sie wissen, dass etwas schiefläuft. Sie brauchen niemanden, der ihnen sagt, was sie falsch machen, sondern wie sie Hilfe bekommen können. Eltern mit Suchtproblemen sind erst einmal einfach Eltern, die das Beste für ihre Kinder wollen.

Was sollte man der Mutter dann am besten sagen?

Der Schlüssel für alle Beratungssituationen ist: Ich sehe, Sie können sich gerade schlecht auf ihr Kind konzentrieren. Was bräuchten Sie denn, damit Sie es besser könnten? Wenn ich sage: Sie sind doch besoffen, es ist nicht richtig, wie Sie mit Ihrem Kind umgehen, dann leugnet die Person das nur. Die Menschen sind darauf trainiert, andere davon zu überzeugen, dass sie das Problem nicht haben.

Sie treten als Experte auf. Aber wie sollte man als Nachbar oder Kollege reagieren?

Ich denke, als Nicht-Experte ist es sogar einfacher. Wenn ich einfach nur als Vater in der Schule bin, spreche ich die Person an, und wir reden über das Kind. Ich biete an, dass wir mal gemeinsam zum Spielplatz gehen können. Ich baue so ein soziales Netzwerk auf. Wenn ich Vertrauen aufgebaut habe, kann ich sagen: Mir fällt das und das auf, wie kann ich dir helfen? Wir sollten überall aufmerksam und ansprechbar sein. Als Fachkraft muss man sehr vorsichtig vorgehen, weil die Familien Angst haben, dass ihr Familiengeheimnis auf den Tisch kommt. Die Angebote müssen dem entsprechen, was die Eltern derzeit brauchen und wollen. Das kann auch nur eine Kinderbetreuung sein, damit die Familie entlastet wird. Durch solche Angebote erkennt die Familie dann, dass Unterstützung wirksam ist und nicht bedrohlich.

Bedrohlich, weil die Eltern Angst haben, dass ihnen die Kinder weggenommen werden?

Ja. Und genau darum haben wir unsere neue Einrichtung SwiM gegründet. Wenn eine Familie wirksame Hilfe erhält, gibt es keinen Grund, die Kinder aus der Familie herauszunehmen. Das passiert nur dann, wenn der Staat die Kinder schützen muss. Wenn aber wir oder ambulante Erziehungshilfen in der Familie sind, und die Kinder gut angebunden sind, und wenn die positive Entwicklung wahrnehmbar wird, dann muss und kann der Staat nicht mehr eingreifen.

Was empfehlen Sie abhängigen Eltern, die ihr Familiengeheimnis noch nicht gelüftet haben?

Als ersten Schritt würde ich immer empfehlen, anonym in die Suchtberatung zu gehen. Da braucht man überhaupt keine Sorgen zu haben. Wenn dann klar ist, was die Familie braucht, kann man sich an die Sozialbürgerhäuser wenden und sagen: Wir haben das und das Problem, wir schaffen es nicht mehr allein mit unseren Kindern und brauchen Unterstützung.

Was bedeutet die Sucht für die Kinder?

Wenn Eltern Substanzprobleme haben, machen die Kinder die Erfahrung, dass Eltern emotional unverständlich und nicht erreichbar sind. In einer normalen Eltern-Kind-Bindung lernt ja das Kind psychische Stabilität von seinen Eltern. Das kleine Kind kann sich nicht regulieren, ist impulsiv, die Eltern halten es so lange im Arm, bis es sich beruhigt. Kinder aus einer Familie mit Suchtproblemen oder psychischen Erkrankungen haben immer wieder das Problem, dass die Eltern sich auch nicht regulieren können. Sie sind unberechenbar. Diese Kinder übernehmen auch ganz viel Verantwortung. Nach Außen funktionieren sie meist sehr gut, um damit die Familie zu schützen. Erst in ganz tiefer Not schaffen sie es, sich selbst Hilfe zu holen.

Kinder aus Suchtfamilien haben ein hohes Risiko, selbst abhängig zu werden.

Ein Drittel entwickelt dauerhafte oder stärkere eigene Störungen, ein Drittel leichte oder vorübergehende und ein Drittel überhaupt keine. Es ist eine der Störungen, die sich am stärksten auf die nächste Generation überträgt. Bei den Zahlen sind auch Kinder berücksichtigt, die aus ihren Familien herausgenommen wurden. Das ist einerseits ein Zeichen dafür, dass etwas Gravierendes vorgefallen sein muss. Andererseits wissen wir auch, dass es nicht alle Probleme löst, wenn Kinder aus ihren Familien herausgenommen werden.

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Aber wenn die Kinder akut gefährdet sind?

Bei drogenkonsumierenden Eltern liegt es nahe, dass man sich wünscht, dass das Kind aus der Familie genommen wird und in eine wunderbare Pflegefamilie kommt. Aber wir sehen oft bei Kindern eine unglaubliche Sehnsucht, zu ihren Eltern zurückzukehren. Dann scheitern Pflegeverhältnisse oder stationäre Unterbringungen, und mit 16 Jahren gehen die Jugendlichen wieder zurück zu ihren Familien und versuchen, etwas nachzuholen. Es gibt viele Abhängigkeitskranke, deren Konsum so ungesteuert ist, dass es richtig und gut ist, die Kinder aus der Familie zu nehmen. Es gibt aber auch Familien, bei denen die Kinder nicht akut gefährdet sind, wenn man ihnen mit einer sehr intensiven Betreuung hilft. Und diesen Weg wollen wir anbieten: Lebt zusammen und schafft es, so gut es geht. Und dabei unterstützen wir euch intensiv.

Da setzt auch Ihr neues Projekt SwiM an?

Das Entscheidende bei SwiM ist, dass wir eine extrem hohe Anzahl an Stunden haben, in denen wir uns um 16 solcher Familien gleichzeitig kümmern können. Wenn eine Familie von uns betreut wird, können wir sie täglich besuchen und direkt vor Ort unterstützen. Darüber hinaus gibt es eine Rufbereitschaft, bei der 24 Stunden am Tag jemand von uns erreichbar ist und auch nachts um drei Uhr zu der Familie fahren kann. Das Kritische für diese Familien sind Überlastungssituationen. Die Eltern sind schon angespannt, wenn etwas hinzukommt, wie ein schreiendes Kind, wissen sie nicht mehr weiter.

Wie läuft das denn bisher? Es gibt doch ambulante Erziehungshilfen.

Es gibt viele Familie, die völlig unbetreut sind und eigentlich Unterstützung bräuchten. Etwa, weil die Familien sich nicht trauen, zum Jugendamt zu gehen. Oder auch, weil das Jugendamt keine geeigneten Hilfe anbieten kann. Es gibt ambulante Erziehungshilfe, aber da haben die Familien zwei Mal in der Woche einen Termin im Büro und vielleicht kommt noch zweimal in der Woche jemand zu ihnen nach Hause. Das reicht für mittelkompetente Eltern. Aber für Eltern, die häufigere Krisen haben, ist das nicht ausreichend.

Bundesweit kritisieren Fachleute, dass Suchthilfe und Jugendhilfe kaum verbunden sind. Wie ist das in München?

In München ist die Vernetzung weiter als in anderen Städten. Es gibt ein großes Kooperationsnetzwerk, in dem die Stadt mit allen Jugendhilfeeinrichtungen, Sozialbürgerhäusern und der Suchthilfe eine Vereinbarung geschlossen hat. Wo immer bei einer der Institutionen eine Familie auffällig wird, wird ein Prozess der Gespräche und Kooperationen in Gang gesetzt. Es gibt auch ein gutes System mit ambulanter Erziehungshilfe und Beratungsstellen. Aber die hochintensive Betreuung, die SwiM anbietet, gab es bisher nicht. Die gibt es bisher auch sonst fast nirgendwo. Das Tolle ist, dass die Stadt diesen Bedarf anerkennt und das Projekt finanziert.

Was müsste sich in München verbessern?

Ich würde mir wünschen, dass die Suchtfamilien die Sicherheit haben, dass sie wirklich ernst genommen werden. Und dass ergebnisoffen an sie herangegangen wird. Es ist leichter, wegzuschauen oder zu viel zu tun. Aber so im Mittelbereich, jemanden kennenlernen, die Kinder kennenlernen, Angebote machen, und sich dafür Zeit lassen, das würde ich mir wünschen. Aber da sind wir auf einem guten Weg. Und ich würde mir wünschen, dass bei jedem Arzttermin, jedem Elterngespräch, zu dem ein Vater mit einer Platzwunde kommt, die er sich im Suff geholt hat, die Fachkräfte immer im Hinterkopf haben, da gibt es noch ein Kind dazu. Und was könnten wir tun, damit es dem Kind besser geht?

© SZ vom 14.02.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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