Münchner Philharmoniker:Versessen auf Details

Valery Gergiev geht es nicht darum, wie viel man probt, sondern wie man probt - etwa Bruckners Sechste. Die SZ hat den Chefdirigenten der Münchner Philharmoniker und sein Orchester dabei begleitet und gefilmt.

Reportage von Rita Argauer

Um ein Uhr mittags stoppt Valery Gergiev das Orchester. Mitten im Takt nickt er kurz, die Klänge verebben, er grinst und wünscht einen schönen Tag. Es ist die Generalprobe der Münchner Philharmoniker, sie spielen Bruckners Sechste. Man hat die Symphonie jedoch nicht als Vorab-Abbild des Konzerts durchgespielt, so wie man das von Generalproben erwartet, es werden weiterhin Details geprobt.

So konnte das Orchester die Probe vor einem Monat erleben, und so können das die SZ-Leser in einem Video nacherleben, das unter www.sz.de/vr-philharmonie zu finden ist. Das ist umso interessanter, weil derzeit viel darüber spekuliert wird, wie Gergiev eigentlich probt.

Gergiev, der Arbeitswütige, der an so vielen Plätzen gleichzeitig arbeitet, aber vergleichsweise wenig Zeit in München verbringt. Doch es ginge nicht darum, wie viel man probt, haben die Orchester-Vorstände schon zu Beginn der Saison erklärt, es ginge darum, wie man probt. Und das sei bei Gergiev eben besonders. Zwar bestechen Gergievs Konzerte durch scharfe Akzente, klangliches Übermaß und Kraft, doch bei den Proben blickt er erst einmal kleinteilig auf die Musik.

So fordert er bei den ausladenden Bläsersätzen in Bruckners Sechster zwar deren Heldenpathos heraus. Gleichzeitig mahnt er, dass richtige Helden normalerweise nicht herumbrüllen würden, ergo die Bläser bitte mit wunderschönem Ton in das Orchester hineinspielen und nicht laut und breit alles niedermähen sollen.

Kein Interesse an der Makellosigkeit

Durch die sprachliche Bildhaftigkeit erinnert so ein Probenbeisitzen in Gergievs Werkstatt an Leonard Bernsteins Mitwirkung bei der Serie "Young People's Concerts". Die wurde Ende der Fünfzigerjahre ausgestrahlt, ist auf Youtube zu finden, und der Enthusiasmus, mit dem Bernstein da den dritten Satz von Mahlers erster Symphonie erklärt, ist hinreißend.

Eine Mischung aus Erklärbär und Enthusiast ist auch Valery Gergiev. Da fallen Sätze über das "Unglück", das die Instrumente erleiden, wenn sie im Pizzicato wortwörtlich gezwickt würden. Deshalb solle das Pizzicato bei Bruckner bitte "dolce", also süß, gespielt werden. "Jeder mag Süßes", ist seine einfache Schlussfolgerung.

Natürlich kann er auch anders, er kann wunderbar über das Mysteriöse und Spirituelle bei Bruckner sprechen, kann auch wunderbar erklären, warum man als moderner Musiker die Traditionen der Musikgeschichte so genau kennen muss. Doch wenn es darum geht, an was er arbeitet, dann pflanzt er kleine, leicht zu verstehende Details ins Orchester, die erst im großen Ganzen der Aufführung aufblühen.

Früher drang von den Proben eines Orchesters fast gar nichts nach draußen. Die großen Dirigentengestalten des 20. Jahrhunderts präsentierten sich ja gerne als zaubernde Zeremonienmeister. Da wäre es kontraproduktiv gewesen, die Entstehung des Werks zu zeigen. Doch der Blick in eine Probe erleichtert den Zugang. Und diesen Zugang muss die Klassik-Szene in den kommenden Jahren sowieso enorm verbreitern, damit das System, das ein neues Publikum brauchen wird, bestehen kann.

Üben gehört essenziell zum professionellen Musizieren dazu. Doch Üben ist auch immer etwas Privates. Die Fehler macht man unter Ausschluss der Öffentlichkeit, dem Publikum präsentiert man Makellosigkeit. Nur ist das jüngere Publikum, das als potenziell nachwachsendes Publikum für klassische Konzerte herhalten muss, gar nicht so interessiert an Makellosigkeit. Da ist man es gewohnt, Einblicke zu bekommen, weil verwöhnt von einer Social-Media-Ästhetik, die diese vermeintlich privaten Eindrücke ständig suggeriert.

Gergiev strotzt vor Machtbewusstsein

Valery Gergiev aber will sowieso viel öffnen. Das klang vor eineinhalb Jahren noch wie die Rechtfertigung seiner im Vorfeld seines Amtsantritts stark kritisierten politischen Äußerungen. Heute erscheint die kontinuierliche Anstrengung, mit der er die Fassaden des Orchesters aufbricht, die Konventionen dehnt und megalomane Festivals auf die Beine stellt, als ein tatsächliches Anliegen. "MPhil 360°" nennt sich dieses Festival, das in München derzeit die extremste Form dieser Öffnung ist. Das kommende Wochenende lang werden weitwinklig zum Teil programmatisch recht willkürlich Konzerte aneinandergereiht.

Der Höhepunkt des umfangreichen Programms im vergangenen Jahr waren alle fünf Klavierkonzerte Prokofjews, die von fünf verschiedenen Pianisten und in fünf Konzerten an nur einem Tag gespielt wurden. In diesem Jahr hat Gergiev das Programm ähnlich vollgepackt. Das Zentrum des Festivals sind dieses Mal die sieben Sinfonien Prokofjews und die fünf Geigenkonzerte Mozarts.

Doch das Programm jetzt ist noch umfangreicher als im letzten Jahr. Es kam noch ein Tanzprojekt hinzu, indem sowohl von der Junior-Kompanie des Bayerischen Staatsballetts Prokofjews "Romeo und Julia" bearbeitet wird, als auch von Tänzern und Choreografen der freien Szene die Spuren von Prokofjews Quintett in g-Moll op. 39, eigentlich Teil der verschollenen Ballettmusik "Trapèze", gemeinsam mit Komponisten ins Heute transferiert werden.

Musik ist für alle, man ist offen für alle, man empfängt dort alle im Münchner Gasteig, so die Grundaussage dieses Programms. Gergiev kompensiert seine etwas sparsam gesetzte physische Präsenz in München mit geballter Arbeitsamkeit während der Anwesenheit. "Wir proben sehr viel, normalerweise bis zur letzten Minute", sagt er.

Es gibt drei Proben vor jedem Konzertblock, doch was in diesen drei Proben geschehe, sei intensiv und weitreichend, erklären die Orchestervorstände Matthias Ambrosius, Stephan Haack und Konstantin Sellheim als Resümee zu einem Jahr unter Gergiev. "Das ganze Potenzial Gergievs wird einem erst dann bewusst, wenn man gelernt hat, seine Art zu dirigieren zu lesen", sagt Ambrosius, es sei eine andere Bewegungsästhetik, ein anderes Handwerk, als man es üblicherweise kenne.

Versessen auf Details

Als Dirigent vereint Gergiev die zwei Typen, die derzeit gerne als Gegensätze gegenübergestellt werden: der kühle Analytiker gegen den Überwältiger. Oder der machtbewusste Orchestervorsteher gegen denjenigen, der sich als mitmusizierender Teil des Orchesters versteht. Gergiev strotzt vor Machtbewusstsein, nimmt aber gleichzeitig die Musiker ernst und als ebenbürtig wahr: Er würde nie jemanden ausstellen, berichtet Ambrosius. Wenn er merke, jemand habe Probleme mit einer Stelle, würde er denjenigen eher schützen, als in eine blamable Situation zu bringen.

Gleichzeitig liebt Gergiev die pumpend-überlaufende Wirkung, die Musik haben kann. Im vergangenen April formierte er für ein Konzert in Moskau wieder einmal seinen Superklangkörper aus Musikern der Philharmoniker und des Mariinsky-Orchesters - auch so eine Anti-Konvention, welche die Philharmoniker aber nun schon mehrmals gerne mitgemacht haben. Auf dem Programm standen Prokofjew und Bruckner. Und so scharf akzentuiert, so voller Kraft und Lautstärke hörte man Prokofjew von den Philharmonikern selten.

Gleichzeitig ist Gergiev aber eben in den Proben ganz versessen auf Details, zerrt einzelne Stellen heraus, verlangsamt, feilt daran und findet seine ungewöhnlich bildhaften Beschreibungen für die Stimmung, die durch die Details erzeugt werden soll.

"Im Konzert ist dann alles anders", sagt Ambrosius, die Tempi zögen an, die Emotion des Spiels setzt sich auf die zuvor erprobten Details. Er gibt energetische Anweisungen, die für Atmosphäre sorgen und für die sein ikonischer Dirigierstab in Zahnstochergröße ausreichend ist. Im Konzert überlässt Gergiev die Demonstration seiner Lust an mächtiger Musik dem Orchester. "Ich will ein Selbstbewusstsein auf der Bühne etablieren", sagt er, vor dem Publikum sollen alle Probleme gelöst sein. Sein Orchester soll gemeinsam mit ihm zur Macht heranwachsen. Das ist zwar auch ein bisschen größenwahnsinnig. Aber hat doch auch einen sehr ganzheitlichen Ansatz. Weitwinklig eben.

Münchner Philharmoniker: "Wir proben sehr viel, normalerweise bis zur letzten Minute", sagt Gergiev.

"Wir proben sehr viel, normalerweise bis zur letzten Minute", sagt Gergiev.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: