Kultur in München:Rooftop auf rostigem Stahl

30 Meter hohe, begehbare Skulptur im Kreativquartier

Kommunikation mit dem urbanen Raum: Die begehbare Skulptur zwischen Jutier- und Tonnenhalle ist gut 32 Meter hoch.

(Foto: Florian Peljak)

Skulptur mit Dachterrasse: Eine über 30 Meter hohe, begehbare Konstruktion soll Besuchern eine andere Perspektive auf die Landeshauptstadt im Wandel ermöglichen.

Von Jutta Czeguhn

Die Jutierhalle und die Tonnenhalle stehen unverrückbar im sogenannten Kreativquartier. Auf der Kiesbrache zwischen den beiden aufgelassenen Industriedenkmälern ist nun ein "fliegendes Bauwerk" gelandet. Exakt in der Mitte. Nur ein paar Stunden haben Hildegard Rasthofer, Christian Neumaier und ihr Team gebraucht, um die 32,4 Meter hohe, innen begehbare Skulptur aufzubauen. Anfang Oktober wird die schlanke vertikale Konstruktion aus 70,4 Tonnen zusammengeschraubtem Stahl wieder verschwinden, wie sie gekommen ist, mit Lastwagen. Fast wie ein Fahrgeschäft. In der relativ kurzen Zeit ihrer Anwesenheit aber entsteht auf dem Platz durch das Aufeinandertreffen von Permanent und Temporär eine spannende Beziehung, die auch etwas erzählt von der Dynamik, die den Münchner Stadtraum derzeit unter Strom setzt. Schwindelfreie können die 156 Treppenstufen im Inneren des Stahlobjekts nach oben klettern und eine "Sichtung" vornehmen. So nennen Hildegard Rasthofer und Christian Neumaier ihr Projekt.

"Sichtung II", um genau zu sein, denn die Stahlskulptur, die die Künstler ausdrücklich nicht als Aussichtsturm verstanden wissen wollen, hat schon andernorts Blickgewohnheiten herausgefordert. Vergangenes Jahr stand das Objekt für einige Zeit am Rande eines Kiessees auf Privatgrund bei Reithofen im Erdinger Land. Eine komplett andere Situation. Von der offenen Plattform der Stahlskulptur, erzählt Hildegard Rasthofer, habe man einen aufregenden Ausblick über die flache Münchner Schotterebene gehabt, bei guter Fernsicht bis ins Alpenvorland zum Alpenhauptkamm. Rasthofer, Jahrgang 1967, ist Architektin, sie hat in München an der TU studiert, stammt jedoch aus Wartenberg im Landkreis Erding. Aus dem benachbarten Landkreis Freising, aus Haag, kommt Metallbildhauer Christian Neumaier, Jahrgang 1965, mit dem zusammen sie die Stahlkonstruktion entworfen hat. Die beiden arbeiten interdisziplinär in den Feldern experimentelle Architektur und plastisch-skulpturale Gestaltung.

Was hat sie am Standort im Münchner Kreativquartier an der Grenze zwischen Neuhausen und Schwabing für ihre Großskulptur gereizt? "Es ist ein Ort in der Stadt, der sich im Umbruch befindet", sagt Rasthofer. Ein einmaliges Gelände, das sich jedoch, obwohl es teilweise für die Kreativen erhalten werden soll, rasend schnell verändere. Und stets verändert hat. Die Architektin befasste sich auch mit der Vergangenheit des Areals als Militärstandort. Bis 1999 war dort die Luitpoldkaserne untergebracht. "Es lohnt sich also, solche Orte zu sichten", sagt sie.

Aus der Nähe gibt sich das Objekt gar nicht monumental, das Kompakte und das Filigrane sind in einer ruhigen Balance. Im Spiel des Lichts und der Wolken ändert die metallene Oberfläche der Stahlwände ständig ihre Farben, changiert von Rostbraun, über Silberblau zu Schwarz. Organisch, fast wie von Flechten überzogen wirkt der industrielle Werkstoff, was erstaunlich ist, bedenkt man die Härte des Materials, den Kraftaufwand und die Hitze, mit der er gefertigt wurde.

30 Meter hohe, begehbare Skulptur im Kreativquartier

Die Skulptur bietet Ausblicke in alle Himmelsrichtungen.

(Foto: Florian Peljak)

Die Skulptur hat sich ihren Raum zwischen den beiden wuchtigen Industriehallen ziemlich selbstbewusst genommen. "Dabei beträgt ihr Fundament nicht mehr als 2,4 mal 2,4 mal 2,4 Meter", beschreibt Architektin Rasthofer. Das sei auch das Maß der Kuben, jeder wiege 4,8 Tonnen. Bei der Montage hat das Team die Module, die exakt gleich sind, jeweils um 90 Grad im Uhrzeigersinn gedreht, übereinander positioniert und verschraubt. Entsprechend versetzt sind auch die schmalen, hohen Fenster.

"Ich geh' schon mal voraus", sagt Architektin Hildegard Rasthofer und beginnt den Aufstieg über die offene, dreiläufige Treppe, die in der Skulptur wie eine Spindel sitzt. Bald ist die Architektin verschwunden, man hört nur noch ihre dumpfen Tritte auf den Stahlstufen. Denn "Sichtung II" ist nicht nur eine Raum- sondern auch eine interaktive Klangskulptur, die akustisch wie eine Art Instrument funktioniert, das zum Schwingen gebracht wird. Setzt sich der Besucher in Bewegung, klopft oder kratzt er an den Wänden, löst das Vibrationen im Stahl aus, die sich im gesamten Turm ebenso wie die Töne fortsetzen und mit den Aktionen anderer Gäste mischen. Und mit den Umgebungsgeräuschen: der Betonpumpe auf dem Nachbargrundstück etwa, dem Verkehrslärm oder den zarten Rufen eines Falken.

Der Weg durch die Skulptur nach unten oder nach oben ist eine spannende akustische Erfahrung, auch wenn sich das Visuelle deutlich in den Vordergrund schiebt. Mit jeder Wendung der Treppe eröffnet sich durch die Schartenfenster ein neuer, anderer Blick auf die vertikale Stadt, die sich um den Stahlturm zu drehen scheint. Himmelsrichtungen, Perspektiven wechseln, als säße man in einem Karussell. Nur dass man alle Zeit der Welt hat, etwa das Zeltdach des Olympiastadions zu entdecken, das plötzlich in den Blick kommt, oder die Türme der Frauenkirche, die eine Spindelrunde vorher noch nicht da waren. Oben auf der Plattform fühlt man sich dann in der Mitte von allem, im Zentrum der Stadt. Nicht über der Stadt, denn mit ihren 32,4 Metern, das betont Hildegard Rasthofer, erhebe sich die Skulptur nicht über den urbanen Raum, sondern wolle mit ihm kommunizieren. Dennoch ist der Blick erstaunlich weit, Sichtachsen ergeben sich mit Kirchtürmen, Heizwerken, den wenigen markanten Hochhausbauten Münchens, den vielen, vielen Kränen. Dem Unfertigen. Gespräche über Stadtentwicklung, architektonische Schwerverbrechen und Großtaten lassen sich hier oben vergnüglich führen. Rooftop-Talk auf rostigem Stahl.

30 Meter hohe, begehbare Skulptur im Kreativquartier

Die Treppe ist wie eine Spindel angelegt.

(Foto: Florian Peljak)

Von der Ferne zoomt der Blick dann wieder in die nächste Nähe. Es fallen die pinken Karabiner auf, die in den Stahlwänden der Plattform verankert sind. Als fliegender Bau sei die begehbare Skulptur strengen Sicherheitsauflagen des TÜV unterworfen, erklärt Architektin Hildegard Rasthofer. So würden die Besucher immer von zwei Personen aus dem Team betreut, ein Guide wache oben auf der Plattform, der andere unten. Sie berichtet von zwei Fluchtwegen, einer über die Treppe, der andere via Seil von der Plattform nach unten, deshalb die Karabiner. Auch Rasthofer hat sich trainingshalber schon mal abseilen müssen.

Auch Sichtung II wird später, wenn die Skulptur im Kreativquartier abgebaut ist, Sichtung III. Ihr nächster Standort wird Unterammergau sein, wo der Unternehmer und Sammler Christian Zott seine Kunsthalle eröffnet. Ob die Stahlskulptur dort für immer verankert wird? "Die Vorstellung, dass sie nicht mehr wandern könnte, gefällt mir nicht", sagt Hildegard Rasthofer.

"Sichtung II", im Kreativquartier bis 2. Oktober, Zugang über die Heßstraße in Höhe von Hausnummer 134. Von dort führt links ein Weg durch ein mit Graffiti besprühtes Tor. Öffnungszeiten jeweils Donnerstag, Freitag, Samstag und Sonntag von 15 bis 20 Uhr für Besucher von zwölf Jahren an. Voraussetzung ist festes Schuhwerk mit rutschfester Sohle, Besichtigung ist nur möglich nach Voranmeldung unter www.sichtung.info. Nicht barrierefrei. Karten zu 14 Euro, ermäßigt sechs Euro, Barzahlung im Besucherzentrum.

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