Freimann:Wachstum ohne Wut

Autobahn A9 in München, 2017

Wuchtiges Wahrzeichen: Die Autobahn-Hochbrücke in Freimann, allseits "Tatzelwurm" genannt, steht emblematisch für die brachiale Entwicklungsgeschichte in diesem Stadtteil. Doch die städtische Planungsbehörde zeigt sich bemüht, die anstehenden Veränderungen nun klug zu gestalten.

(Foto: Robert Haas)

Die Freimanner streben noch immer nach politischer Eigenständigkeit. Doch der Ton ist heute gelassener. Die Bürger wollen den Wandel sachlich mitgestalten

Von Stefan Mühleisen, Freimann

Für einen kurzen Moment ist es wie in früheren Jahren: Der ganze Saal im MOC-Veranstaltungscenter voller hochgereckter Stimmkarten. Doch die Stimmung ist anders. Ruhiger, abgeklärter. Nicht so wütend wie noch vor zehn, vor 20, vor 30 Jahren. So lange schon stellen Freimanner immer und immer wieder bei Bürgerversammlungen diesen Antrag: die politische Abspaltung Freimanns vom Bezirk Schwabing-Freimann, eine Art Freixit, wenn man so will. "Wir haben unterschiedliche Probleme und wollen unseren eigenen Stadtbezirk mit einem eigenen Bezirksausschuss", ruft der Antragsteller am Donnerstagabend ins Mikrofon. Die meisten BA-Mitglieder seien Schwabinger, "die kümmern sich nur mit halben Herzen um Freimann".

Mehr als 200 Besucher sind in das Messezentrum gekommen. Es waren schon mal mehr und auch mal weniger. Immerzu ist diese Veranstaltung indes eine gute Gelegenheit, um den Freimannern den Puls zu fühlen. Und der schlug lange Zeit traditionell hoch, wenn es um die Eigenständigkeit ihres Stadtbezirks geht, begleitet von einem speziellen Freimanner Frust-Sound. Denn die lange Geschichte als hochtourig brummender Industriestandort hat Narben auf der Freimanner Seele hinterlassen.

Riesige Gewerbegebiete, massive Verkehrsströme, stinkende Mülldeponie - Freimann war lange Abladeplatz für all das, was die übrige Stadt allzu gerne an den nördlichen Stadtrand verlegt sah. Von den Schwabinger Politikern fühlen sie sich bis heute nicht ernst genommen, wie der neuerliche Abspaltungsantrag dokumentiert. Dennoch: Großen Applaus bekommt er nicht. Die Gemüter haben sich beruhigt. Fast gelassen wird abgestimmt. Anders als zum Beispiel 1982, als ein Versammlungsbesucher mit Verve reklamierte, Freimann dürfe nicht länger "der Dreckkübel der Stadt" sein.

Die Bürger wissen nur zu gut, dass das Dreckkübel-Image der Vergangenheit angehört. Freimann ist jetzt Boom-Town. Doch die Bürger wollen mitreden, damit sie nicht erneut vom Wandel überrollt werden. Die entsprechenden Forderungen werden jedoch nicht mehr verstört vorgetragen. Der eigenständige Gestaltungswille der Freimanner hat einen sachlichen, aber nachdrücklichen Sound.

Mit gewisser Besorgnis richtet sich das Hauptaugenmerk der Bürgerschaft dabei auf das 60 Hektar große Gelände der ehemaligen Bayernkaserne, auf dem in den nächsten zehn Jahren ein Quartier für 15 000 Bewohner emporwachsen soll. Daniela Spießl, Leiterin des Alten- und Service-Zentrums Freimann, mahnt in einer leidenschaftlichen Rede, dieses Neubaugebiet mit der Umgebung bestmöglich zu vernetzten. "Bitte nicht wieder den gleichen Fehler machen - und erst planen, dann lautstark bedauern", sagt sie - und fordert unter großer Zustimmung der Versammlung, dass die Stadt Brückenbauwerke, etwa über die Heidemannstraße, errichten, ferner die geplante Expressbuslinie weiter nach Osten leiten soll.

Qua städtischer Planung soll die Heidemannstraße, diese hochfrequentierte Ost-West-Achse, Mitte der 2020er Jahre ausgebaut werden und eine Busspur erhalten, auf der die Busse zwischen den U-Bahnhöfen "Am Hart" und "Kieferngarten" pendeln sollen - bis dereinst eine neue U-Bahn-Linie (U26) auf dieser Trasse unterirdisch verkehrt. Die Freimanner sind jedoch skeptisch, ob das reicht. Jener Besucher, der erfolgreich um den Freixit wirbt, bekommt auch eine Mehrheit für die Forderung, die Stadt solle bis Jahresende wieder ein U-Bahn-Referat einrichten.

Auch der couragierte Auftritt einer Besucherin zeigt, dass die Bürger argwöhnisch die Planung für das Bayernkasernen-Megaprojekt begleiten. Sie prognostiziert "eine Verkehrslawine" und dringt per erfolgreichen Anträgen auf eine Lärmschutzwand im Ostteil sowie auf Flüsterasphalt für die gesamten Strecken.

An der Reaktion von Michael Bacherl, Baudirektor im Planungsreferat, ist abzulesen, wie sich die Zeiten geändert haben. War Freimann einst das Stiefkind der Stadtplanung, zeigt sich die Behörde heute bemüht, den Wandel klug zu gestalten. "Von dem Projekt Bayernkaserne soll ganz Freimann profitieren", versichert Bacherl und verspricht "großzügige Geh- und Radwege" an der Heidemannstraße, ferner eine breite Vernetzung der Menschen, Einrichtungen, Institutionen mittels Quartiersmanagement. Brückenbauwerke mag er aber nicht versprechen.

Unterdessen ist das Engagement der Aktionsgemeinschaft "Rettet den Münchner Norden!" ungebrochen, wie sich bei der Veranstaltung herausstellt. Die Bürgerinitiative, 1984 gegründet, stemmte sich einst mit spektakulären Aktionen gegen die Verdreckkübelung Freimanns - doch treten die Aktivisten heute pragmatisch, wenngleich mit leidenschaftlichem Impetus, auf. "Es gilt, die bayerischen Werte und das bayerische Lebensgefühl zu erhalten", schmettert Walter Hofstätter in den Saal.

Er meint damit die mehr als 100 Jahre alte Gaststätte "Sakrisch guat", die zugunsten eines Baugebiets an der Freisinger Landstraße platt gemacht werden soll, wenn die Bayerische Hausbau auf dem früheren Areal der Turnerschaft Jahn gut 640 Wohnungen baut. Hofstätter bekommt großen Applaus für seine dringende Forderung, das Lokal zu erhalten, wobei eine Aktivisten-Kollegin dafür eine Idee vorträgt, die ebenfalls angenommen wird: TS Jahn soll sein Restgrundstück nördlich des Emmerigwegs dem Investor geben, dafür das Segment nördlich der Wirtschaft erhalten - und dort dann seine neue Turnhalle bauen.

Das Wachstum Freimanns tangiert auch die Schulen, insbesondere die Mittelschule an der Situlistraße: Sie soll gemäß dem Vortrag eines Elternbeiratsmitglieds von derzeit 300 auf 1200 Kinder anwachsen. "Auf dem bisherigen Gelände", echauffiert er sich - und pocht auf den Erhalt in der jetzigen Form und die Einhaltung der Denkmalschutzvorschriften. "Das wäre Rechtsbruch, siehe Uhrmacherhäusl", formuliert er scharf - und erntet dafür viele hochgereckte Stimmkarten und grimmiges Gemurmel. Da ist es für einen kurzen Moment wieder wie früher.

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