Engagement:Auf Augenhöhe

Klaus Grothe-Bortlik, 2015

Selbsthilfe sei ein "Seismograf der Gesellschaft", sagt Klaus Grothe-Bortlik, Geschäftsführer des Selbsthilfezentrums.

(Foto: Florian Peljak)

Die Stadt fördert seit fast 35 Jahren Selbsthilfegruppen, in denen sich heute geschätzt 40 000 bis 50 000 Münchner engagieren. Mittlerweile erkennen auch Ärzte das Engagement an

Von Sven Loerzer

Als Werner Barz aus dem Koma erwachte, war er von der Erfahrung zwischen Leben und Tod so überwältigt, dass er sie zunächst nicht in Worte fassen konnte. "Wenn Sie diese Erfahrung haben, wissen Sie nicht, ob Sie Manderl oder Weiberl sind", sagt Barz, der sich selbst als gestandenen Handwerker bezeichnet, inzwischen in Rente. "Ich bin keiner, der verrückt ist." Aber Menschen, die wie er von Nahtoderfahrungen berichteten, galten lange als Spinner, "bis der Nachweis kam, dass es das wirklich gibt". Werner Barz leitet inzwischen die 2001 gegründete Selbsthilfe- und Studiengruppe Nahtoderfahrung München, die im nächsten Jahr den zweiten Münchner Nahtod-Kongress zusammen mit der Hochschule für Philosophie veranstaltet. "Menschen mit Nahtoderfahrungen stehen sehr lebendig im Leben, wenn sie ihre Erfahrung integriert haben in ihr Leben", sagt Barz. Die Selbsthilfegruppe bietet dazu einen geschützten Rahmen, in der man sich mit anderen austauschen kann. Das schafft Erleichterung und zugleich Bereicherung, betont Barz.

Vor fast 35 Jahren hat die Landeshauptstadt München damit begonnen, Selbsthilfe zu fördern. War zuvor in manchen Kreisen noch herabwürdigend die Rede von "Betroffenheitsgruppen", so sind sie heute "wesentlicher Bestandteil der sozialen und gesundheitlichen Landschaft", wie Christian Müller, sozialpolitischer Sprecher der Rathaus-SPD, betont. In Vertretung des Oberbürgermeisters wird er am Samstag, 6. Juli, um 10.30 Uhr am Marienplatz den Münchner Selbsthilfetag eröffnen, der alle zwei Jahre stattfindet. Bis 16.30 Uhr präsentieren sich dort knapp 70 der 1300 Selbsthilfegruppen zusammen mit dem Selbsthilfezentrum, das den Gruppen nicht nur kostenfrei Räume, sondern Unterstützung bei Gründung, Fortbildung und Beratung bietet. "Selbsthilfe funktioniert nur, wenn ganz viele Menschen Verantwortung übernehmen", sagt Müller. Geschätzt engagieren sich etwa 40 000 bis 50 000 Münchner in der Selbsthilfe. "Hilfe auf Augenhöhe" sei das, betont Mathias Winter, im Sozialreferat für bürgerschaftliches Engagement zuständig.

Die Stadt unterstützt 70 Selbsthilfegruppen aus dem Sozialbereich mit Beträgen in Höhe von jeweils 4000 bis 6000 Euro jährlich und finanziert unter Beteiligung der Krankenkassen das Selbsthilfezentrum. Etwa 400 Gruppen aus dem Gesundheitsbereich erhalten Geld für ihre Arbeit von den Krankenkassen, meist Beträge zwischen 1800 und 2000 Euro. Wenig Geld, hohes ehrenamtliches Engagement, das kennzeichnet die Selbsthilfe. "Die Menschen unterstützen sich gegenseitig durch die Beschäftigung mit ihren Problemen", erklärt Klaus Grothe-Bortlik, Geschäftsführer des Selbsthilfezentrums. Selbsthilfe sei ein "Seismograf der Gesellschaft", weil Gruppen zu Themen entstehen, für die professionelle Helfer keine Lösung haben. Denn ihnen fehlt die "Betroffenenkompetenz".

Horst Dillschnitter, seit 14 Jahren Regionalgruppenleiter des Arbeitskreises der Pankreatektomierten, in dem sich Menschen mit Bauchspeicheldrüsenerkrankungen engagieren, bekräftigt: "Erkrankte sind dichter dran als Mediziner." Waren es früher noch die "Halbgötter in Weiß", von denen sich Patienten unzureichend informiert fühlten, hat die Selbsthilfearbeit bei den Ärzten inzwischen durchaus Anerkennung gefunden. "Wir machen Fortbildungsveranstaltungen in den Kliniken." Lange Zeit sei die Nachsorge für Erkrankte stiefmütterlich behandelt worden, aber inzwischen seien die Angebote der Selbsthilfe Bestandteil der Patientenmappe der Krankenhäuser. Und anders als früher integrierten die Kliniken die Selbsthilfe auch in den Behandlungsplan bei Bauchspeicheldrüsenerkrankungen.

Mit der ärztlichen Hilfe sind ja oft auch noch nicht alle Probleme gelöst. Nach einem Schlaganfall war Uwe Wildberger halbseitig gelähmt, "die Sprache, das Lesen, alles war weg". Das alles besserte sich, heute leitet er die Schlaganfall-Selbsthilfegruppe Junge Aphasiker München. Aphasie ist eine erworbene Sprachstörung, die nach einer Hirnschädigung auftreten kann. "Es gibt viele Leute, die ganz schwer sprechen können." Ihnen fällt es schwer, wieder in die Öffentlichkeit zu gehen. Die Gruppe will dazu ermutigen und hat dazu einen Chor gegründet, die "Aphasingers". Die präsentieren sich beim Selbsthilfetag am Samstag (12.15 Uhr) auf der Bühne vor dem Rathaus am Marienplatz.

Selbsthilfe aber eröffnet immer häufiger Menschen auch einen Weg, über tabubesetzte Themen reden zu können, hat Grothe-Bortlik festgestellt. Etwa über das Messie-Syndrom, das dazu führt, dass Betroffene aus Scham keinen Menschen mehr in ihre Wohnung lassen, weil sich in den Räumen so vieles angesammelt hat, dass man sich kaum noch einen Weg bahnen kann.

Vielen Männer fällt es auch nicht leicht, darüber zu sprechen, was in der Umgangssprache meist als Impotenz bezeichnet wird. Hilfe will die Selbsthilfegruppe Erektile Dysfunktion bieten, die sich deshalb auch beim Selbsthilfetag mit einem eigenen Stand präsentiert. Das Selbsthilfezentrum wiederum berät Bürger, die eine Gruppe suchen, aber unterstützt sie auch dabei, eine neue Gruppe zu gründen, wenn es noch kein passendes Angebot gibt.

Zunehmend schließen sich auch Migranten zusammen, wie etwa zur seit 2016 existierenden Selbsthilfegruppe "Kreativ und Selbstbewusst". Mit künstlerischen Kursen, wie etwa arabische Kalligrafie, Nähen und Schneidern will die Gruppe dazu beitragen, dass sich Frauen aus Kriegsländern psychisch stabilisieren und hier gut zurechtfinden, erzählt die Leiterin Yusir Alshorofey. Wie das gelingt, zeigen die Frauen am Samstag (13.30 Uhr) mit einer interkulturellen Modenschau auf der Bühne vor dem Rathaus.

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