Artenvielfalt:"Die meisten Arten sind ausgestorben, bevor wir sie entdecken"

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"Rettet die Bienen!" - so lautet der Titel des Volksbegehrens. Dieses Exemplar lebte im Sommer 2018 mit ihrem Volk auf dem Dach des Gasteigs. (Foto: Catherina Hess)

Umweltschützer und Zoologen fordern mehr Anstrengungen, um das massive Artensterben auch in München aufzuhalten - die Stadt arbeitet bereits an einer Biodiversitätsstrategie.

Von Thomas Anlauf

Wenn Michael Schrödl an die Zukunft denkt, hat er düstere Gedanken. Sollte die Weltgemeinschaft in der Klima- und Umweltpolitik nicht jetzt umsteuern, sieht er für 2030 voraus, dass jährlich Inseln im Pazifik versinken, Hunderte Millionen Menschen weltweit aus ihren lebensfeindlich gewordenen Heimatländern fliehen. Trinkwasser ist Mangelware, Hunger und Seuchen brechen aus. In drei Jahrzehnten, warnt der Wissenschaftler, könnte die Erde durch Umweltzerstörung und Kriege "heiß, wild und öde" geworden sein - und Mensch und Natur am Ende. Dieses Szenario entwirft Schrödl seinem aktuellen Buch "Unsere Natur stirbt".

Der renommierte Biologe sieht eine ökologische Katastrophe heraufziehen: "Die meisten Tier- und Pflanzenarten sind ausgestorben, bevor wir sie überhaupt entdecken." Schrödl, Professor an der Zoologischen Staatssammlung in München, hat deshalb im vergangenen Sommer mit Kollegen eine Petition an Bundeskanzlerin Angela Merkel mit dem Titel "Artenvielfalt erforschen, Artensterben stoppen!" initiiert, die bereits mehr als 70 000 Menschen unterschrieben haben. Auch das Volksbegehren "Rettet die Bienen!", das in zehn Tagen startet, unterstützt der Wissenschaftler privat.

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Aus der Münchner Politik bekommt Schrödl mittlerweile Unterstützung. Der Münchner Stadtrat hat im Dezember eine Biodiversitätsstrategie beschlossen, die nicht nur möglichst alle wertvollen Grünflächen in der Stadt erhalten will, sondern auch mit Artenhilfsprogrammen Pflanzen und Tiere in München schützen und ihren Lebensraum verbessern soll. Für die nur in München vorkommende Bayerische Zwergdeckelschnecke sollen nun Schutzmaßnahmen ergriffen werden, das Gleiche gilt für den gerade erst in der Allacher Lohe entdeckten seltenen Hirschkäfer.

Dort "könnten und sollten Soforthilfemaßnahmen in Form sogenannter Hirschkäfermeiler getroffen werden", meint Markus Bräu, Experte für Umweltvorsorge und Ressourcenschutz im Referat für Gesundheit und Umwelt (RGU). Um das Artenschutzprogramm umzusetzen, sollten zahlreiche Maßnahmen "unverzüglich beginnen", so Bräu. Voraussichtlich bis März soll unter Federführung des RGU eine sogenannte Umsetzungsgruppe Biodiversitätsstrategie die Arbeit aufnehmen, in der auch Umweltorganisationen wie die Münchner Abteilungen des Landesbund für Vogelschutz (LBV) und des Bund Naturschutz (BN) mitarbeiten werden.

"Der Wert von Natur muss Chefsache werden", fordert Rudolf Nützel, Geschäftsführer der Münchner BN-Kreisgruppe. Denn wenn die Biodiversitätsstrategie auch umgesetzt werden soll, "muss die Stadt das Heft in die Hand nehmen". Bislang sei es bei neuen Bauprojekten in München so, "dass Grün immer an letzter Stelle steht". Bei der Planung für die Verlängerung der U-Bahnlinie 5 nach Pasing etwa wurde laut Nützels Stellvertreter Martin Hänsel "nie eine alternative Trasse geprüft, wo weniger Bäume gefällt werden müssten". Bislang müssen entlang der Strecke voraussichtlich bis zu 700 Bäume für die Großbaustelle weichen. Die sollen zwar nachgepflanzt werden, doch bis ein Baum ein so hohes Alter erreicht, dass er als wichtiger Klimafilter wirkt, "vergeht ein halbes Menschenleben", so Hänsel.

Für die beiden Naturschützer ist es deshalb besonders wichtig, dass die Münchner, aber auch die Mitarbeiter der Stadt für den Naturschutz stärker sensibilisiert werden. Umweltbildung könnte bereits im Kindergarten beginnen, sämtliche Münchner Schulen könnten ihre Grünanlagen naturnah umgestalten. Die Stadt selbst könnte Mottowochen oder gar -monate ausrufen, in denen bestimmte Aspekte des Natur- und Umweltschutzes in München herausgegriffen werden. Ganzjährig sollte es nach Ansicht des Bund Naturschutz zahlreiche Führungen und Informationsveranstaltungen geben, die auch von Umweltorganisationen angeboten, aber von der Stadt aktiv beworben werden.

Tatsächlich bereitet das Kommunalreferat derzeit mit dem Geodaten-Service der Stadt eine Online-Karte mit Angeboten zu nachhaltigen Lebensweisen vor. Dort werden sich zum Beispiel Einkaufsmöglichkeiten für Bioprodukte und Bio-Restaurants finden. Zudem gibt es seit 2016 im Rahmen der Ferien-Aktion "Mini-München" ein Klimaschutzprojekt. Bis 2022 soll ein Konzept erarbeitet werden, um Umwelt- und Naturschutz fest im Münchner Bildungssystem zu verankern. Außerdem können von diesem Jahr an konkrete Projekte an Schulen über das Konzept "Schule N - fair in die Zukunft" mit jährlich 200 000 Euro unterstützt werden, teilte das Umweltreferat mit.

Umweltreferentin Stephanie Jacobs liegt da ganz auf der Linie der Naturschützer. "Mir ist es ein persönliches Anliegen, in unserer Gesellschaft ein stärkeres Bewusstsein für einen schonenden Umgang mit Ressourcen zu schaffen. Denn jeder kann wirklich auch schon mit kleinen Schritten zu einem nachhaltigen Leben beitragen", sagt Jacobs. Die Schätzungen der Wissenschaft zeigten einen außergewöhnlich schnellen Verlust an Biodiversität in den vergangenen Jahrhunderten. "Das deutet darauf hin, dass wir uns mitten in einem sechsten Massensterben befinden", so Jacobs. In der Erdgeschichte kam es immer wieder durch Naturkatastrophen oder Klimaveränderungen zu gigantischen Artensterben, zuletzt vor knapp 66 Millionen Jahren, als alle Dinosaurier mit Ausnahme der Vögel ausstarben.

Der Münchner Biologe Michael Schrödl betont, dass es diesmal nicht ein Meteoriteneinschlag oder Vulkanismus, sondern die Menschheit sei, die in kurzer Zeit Tier- und Pflanzenarten in großem Stil ausrottet. Jedes Jahr, so der Biologe, verschwinden etwa 20 000 Tierarten. Auch in München wird die Vielfalt in der Natur Jahr für Jahr geringer, wenngleich es im Vergleich zum Umland mit viel industrieller Landwirtschaft hier noch erstaunlich viele seltene Tiere und Pflanzen gibt. Um überhaupt noch das Massensterben aufhalten zu können, "muss auf allen Ebenen das Maximum erreicht werden", fordert Schrödl. Sonst gehe das Massensterben weiter - "bis nichts mehr kreucht und fleucht".

© SZ vom 21.01.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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