Aubing:Wo Spinnen am Stammtisch gemolken werden

Aubing: Volker Herzig zwingt die Spinnen mit leichten Stromstößen, ihr Gift zu verspritzen.

Volker Herzig zwingt die Spinnen mit leichten Stromstößen, ihr Gift zu verspritzen.

(Foto: Stephan Rumpf)

Sogar der "angesagteste Spinnengiftforscher" der Welt aus Australien reist an, wenn in Aubing einmal im Monat der größte Spinnenstammtisch Deutschlands stattfindet.

Von Ellen Draxel

Ganz ruhig sitzt das Tier in seiner Plastikbox. Erst als Volker Herzig den Deckel abnimmt, scheint die Spinne aufzuwachen. Sie fühlt sich offenbar gestört, richtet ihre Vorderbeine jetzt zur Drohgebärde auf, versucht dann zu entkommen. Sie ist handtellergroß, eine Vogelspinne mit braunschwarzen Haaren auf Hinterleib und Laufbeinen. Spinnengiftforscher Herzig fotografiert sie zunächst, packt sie dann mit einem speziellen Spinnengriff und stößt ihre beiden Beißklauen durch die feine Membran eines Plastikröhrchens. In dieses Röhrchen entlässt die Vogelspinne ihr Gift, dazu gezwungen durch leichte 15-Volt-Stromschläge.

Für Menschen mit einer Spinnenphobie ist das, was der Wissenschaftler in Aubing macht, ein Albtraum. Für diejenigen aber, die ihm die Spinnen an diesem Tag bringen, ist der Abend ein Höhepunkt, den sie lange nicht vergessen werden. Es ist ein buntes Völkchen, das "dem Volker" an diesem Nachmittag beim Melken der Vogelspinnen zuschaut. Eine Frau trägt eine Spinnenkette um den Hals, andere demonstrieren ihr Faible mit T-Shirts, auf denen ihre Lieblingstiere prangen.

Die Beobachter sind Lkw-Fahrer und Banker, Müllmänner, Kundenberater, Hausfrauen oder Schüler. Die Faszination für Vogelspinnen geht durch alle Schichten, man kennt sich, duzt sich, viele der Gäste kommen für dieses Event von weit her. Die 15-jährige Silvia Chizzali beispielsweise ist eigens aus Südtirol angereist, sie hält nicht nur an die hundert Spinnen, sie präpariert die Tiere auch, wenn sie ihr wegsterben. Einmal im Monat treffen sich Spinnenfans in der Aubinger Gaststätte "Burenwirt" zu Deutschlands größtem Spinnenstammtisch, zwischen 50 und hundert Leute sind es jedes Mal. Hier tauschen, verkaufen und kaufen sie ihre Spinnen, hier finden sie Gleichgesinnte. Aber so etwas wie heute haben selbst viele der langjährigen Spinnenhalter noch nie gesehen.

Michael Hölbling hat den Stammtisch vor mehr als zwei Jahren ins Leben gerufen. Der 41-Jährige hält seit seiner Jugend Vogelspinnen, zwischen 70 und 80 große Tiere leben in Terrarien in seiner Wohnung. "Wenn ich sie verpaare, können es auch mal bis zu 500 Spinnen sein", sagt der Puchheimer. Seine älteste und allererste Spinne heißt Uschi, sie ist 24 Jahre alt. Schon Hölblings Vater hatte eine Schwäche für Exoten, er bevorzugte allerdings Geckos und Echsen. "Als ich mit 15 Jahren einmal mit ihm zum Futterkaufen ging, sah ich Uschi", erinnert sich der Kundenberater. Er verliebte sich sofort, seine Leidenschaft für Vogelspinnen war entfacht.

Auch Stefan Muleys Lieblingshobby sind die haarigen Tiere mit den acht Beinen. Seine Schwester schenkte ihm die erste Spinne, in den Neunzigerjahren zählte sein Bestand bis zu 400 erwachsene Vogelspinnen. Jetzt hat er noch 30, "für mehr ist leider kein Platz". Der 50-Jährige kennt wie alle Halter hier die lateinischen Namen der eigenen Tiere, weiß, wie Vogelspinnen reagieren, was sie fressen, dass sie eher friedliebende denn aggressive Lebewesen sind. Weder er noch Hölbling wurden je gebissen.

Spinnengift ist "eine Schatztruhe der Natur"

"Spinnen", erklärt Wissenschaftler Volker Herzig, "können bei einem Angriff steuern, wie viel Gift sie abgeben". Drohe ihnen Gefahr, versuchten sie zuerst zu entkommen. Erst, wenn sie sich nicht mehr zu helfen wüssten, attackierten sie. Und selbst dann seien es oft Trockenbisse, die sie ihrem Opfer zufügten - also Bisse ohne Gift. "Die Spinne verschwendet ihre Energie nicht, und das Produzieren des Gifts kostet sie Energie."

Beim Melken der Tiere hat der Forscher die Beißwerkzeuge noch nie zu spüren bekommen, dazu ist er nach all den Jahren viel zu erfahren. "Der Volker ist der angesagteste Spinnengiftforscher auf unserem Globus", weiß Michael Hölbling. 5000 Tieren hat Herzig nach eigener Aussage schon ihr Gift entnommen, seine Sammlung ist mit 450 Spinnengift- und etwa 50 Skorpionsgiftarten die größte, die es weltweit gibt. Studiert und promoviert hat der 42-Jährige in Tübingen, aber seit elf Jahren forscht er im australischen Brisbane an der Universität von Queensland.

Aubing: Experten wie Volker Herzig haben keine Berührungsängste.

Experten wie Volker Herzig haben keine Berührungsängste.

(Foto: Stephan Rumpf)

"Spinnengift", sagt Herzig, "ist eine Schatztruhe der Natur für neue Medikamente und Bio-Insektizide". Insekten wie etwa Käfer oder Raupen verursachen massive Schäden in der Landwirtschaft, dadurch gehen Milliardenbeträge an Nahrungsmitteln verloren. Insekten übertragen aber auch Krankheiten wie beispielsweise die Anophelesmücke die Malaria.

Melk-Touren durch Europa

Die Spinne, so der Forscher, verfüge als natürlicher Feind der Insekten über Bestandteile in ihrem Gift, die eine wirksame Waffe gegen die Schädlinge darstellen können. "Spinnen sind die erfolgreichsten Insektenjäger", weiß der Wissenschaftler. Das Toxin eines Tieres lasse sich in der Regel in Tausende organischer Verbindungen untergliedern. Daher schätze man, dass sich in allen Spinnen mehr als zehn Millionen solcher Peptide versteckten. "Man muss sie nur finden."

Dabei sollen ihm an diesem Samstag die Spinnenhalter in Aubing helfen. Zwischen 250 und 300 Vogelspinnen haben die Arachnen-Liebhaber mitgebracht, außerdem einige Skorpione und einen thailändischen Gliederfüßler mit rund hundert Beinen, der im Kühlschrank steht, damit er vor dem Melken ruhiger wird. Volker Herzig unternimmt alle paar Jahre regelrechte Melk-Touren in Europa, weil hier die Tiere schon bestimmt sind und er in kurzer Zeit viele Proben nehmen kann. "Gehe ich in die Natur, finde ich vielleicht einige wenige Tiere, die ich aber erst zuordnen müsste." Abgesehen davon, dass 90 Prozent der Spinnen zu klein zum Melken seien.

Besucherin Sissi schaut an diesem Tag begeistert zu, von ihren 24 Vogelspinnen will sie aber keine melken lassen. Ihre Tiere haben alle Namen, den Stress mit den Elektroschocks will sie Bärbel, Annabel, Rita und Co. jedoch nicht antun. Auch wenn Herzig versichert, der Strom schade den Spinnen überhaupt nicht. Sissi litt früher unter einer "furchtbaren Spinnenphobie", hat dann aber das Verhalten der Tiere aus sicherer Entfernung studiert. Inzwischen ist sie geheilt: "Jetzt fange ich die Hausspinnen und setze sie aus."

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