100 Jahre Münchner Kammerspiele:Atemberaubende Tradition

Von der Lustspielhausbühne "Zum großen Wurstel" zu einem der bedeutendsten Theater Deutschlands: Die Münchner Kammerspiele blicken auf eine ruhmvolle Geschichte mit epochemachenden Inszenierungen zurück. Skandale gab es natürlich auch.

Christine Dössel

Münchner Kammerspiele

Die Münchner Kammerspiele gelten als das letzte erhaltene Jugendstiltheater der Bundesrepublik.

(Foto: dpa)

Was kommen einem da nicht für Bilder in den Kopf: hundert Jahre Münchner Kammerspiele! Erinnerungen an großartige Schauspieler und unvergessene Theaterabende, Skandale, Triumphe und Flops. Angelesenes, Selbstgesehenes, Gehörtes, Zitiertes. Geschichten und Legenden aus einem Jahrhundert deutscher, ach was: europäischer Theatergeschichte - denn an dieser haben die Münchner Kammerspiele mit maßstabsetzenden Inszenierungen und einem stets großen Gegenwartssinn in all den Jahren entscheidend mitgeschrieben.

Was immer die Erinnerungsmaschinerie da nun im Kopf eines jeden produzieren mag - wohl niemand wird die wesentlichen Namen und Ausprägungen dieser 100 Theaterjahre so sprudelnd witzig und schnell aus dem Stegreif herunterspulen und in Beziehung setzen können wie Matthias Günther, dessen Stimme sich vor Begeisterung fast überschlägt: "Dieses Haus hat eine solche Tradition, dass es einem schier den Atem raubt!"

Günther ist Dramaturg und Jubiläumsbeauftragter der Kammerspiele und als solcher zuständig für die Hundertjahrfeier an diesem Donnerstag im Schauspielhaus. Kein steifer Festakt mit langen Reden und Nummerneinlagen soll das werden, sondern eine "360 Grad-Hörinstallation", in der diejenigen zu Wort kommen, die sonst nie auf der Bühne stehen: die Zuschauer und die Menschen von der Hinterbühne, also Technik, Maske, Garderobe.

Aus Interviews mit langjährigen Abonnenten und Mitarbeitern des Hauses entsteht die Stimmencollage "50 Blicke", die sich dem Theater sozusagen von hinten und von unten nähert. Da erzählt dann zum Beispiel ein Ehepaar, wie es versuchte, in den Achtzigern ein Kammerspiele-Abo zu bekommen. Das war damals die große Zeit von Dieter Dorn, mit den berühmten "Ausverkauft"-Wapperln auf den Spielplänen. Man kann sich ausmalen, was da kommt, auch wenn Günther noch nichts verrät.

Nur so viel: Am zweiten Abend der viertägigen Jubiläumsfeierlichkeiten, einer Lesenacht mit dem Ensemble in der Regie des Intendanten Johan Simons, soll das Theater aus sich selbst heraus sprechen. Anhand von 25 Objekten aus der Requisitenkammer und dem Fundus werden 25 Geschichten aus der 100-jährigen Geschichte erzählt.

Da ist zum Beispiel ein durchsichtiger Schleier, der polizeilich konfisziert wurde. Das Corpus Delicti führt direkt zurück ins Gründungsjahr 1912, als an den Kammerspielen Frank Wedkinds "Franziska" uraufgeführt wurde (mit dem Dichter und seiner Frau Tilly höchstpersönlich in den Hauptrollen) - eine wilde "Faust"-Travestie, die den skandalumwitterten "Bürgerschreck" Wedekind mal wieder in Konflikt mit der Zensurbehörde brachte, welche den Schleier, mit dem verheißungsvoll bedeckt eine nackte junge Frau auftreten sollte, kurzerhand kassierte. Mit Wedekinds Stücken sollte es noch so manchen Ärger geben. Gespielt wurden sie trotzdem.

Die Kammerspiele waren damals noch in der Münchner Augustenstraße 89 beheimatet, im etwas anrüchigen "Lustspielhaus", das 1911 vom ehemaligen Direktor des Berliner Hebbel-Theaters Eugen Robert übernommen wurde. Dieser Robert gab der Schwabinger Bühne zunächst allen Ernstes den Namen "Zum großen Wurstel", taufte sie dann jedoch um in "Münchner Kammerspiele".

Unter diesem würdigeren Namen eröffneten sie am 11. Oktober 1912 mit dem expressionistischen Stück "Das Leben des Menschen" von Leonid Andrejew ihre erste Spielzeit. Die Münchner Post lobte den "künstlerischen Ernst", der plötzlich in diese kabarettistisch inspirierte Untergrundbühne einzog.

Die Ära Falckenberg

1913 übernahm der Schauspieler Erich Ziegel die Intendanz, dessen große Leistung darin bestand, dass er den als geniehaft geltenden Feingeist Otto Falckenberg als Chefdramaturg an sein Haus band. Falckenberg war 1914 zum ersten Mal in den Kammerspielen gesessen, in einer Inszenierung von Strindbergs "Die Kronbraut", und wusste sofort: "In diesem Theater ist mein Platz." Eine glückliche Fügung für beide Seiten. Schon 1915 rettete er Erich Ziegel vor der Pleite - mit der Welturaufführung von Strindbergs Stück "Die Gespenstersonate", die dem Haus einen Riesenerfolg und auch so etwas wie eine Intonation bescherte.

Falckenberg inszenierte daraufhin einen ganzen Zyklus von Strindberg-Stücken und verhalf modernen Autoren wie Georg Kaiser zum Durchbruch, begründete mit seinem triumphalen "Wie es euch gefällt"-Erfolg 1917 aber auch die lange, bis heute gepflegte Tradition der großen Shakespeare-Inszenierungen an den Kammerspielen.

Als er 1917 die Intendanz übernahm, war Falckenberg längst Spiritus Rector des Hauses und sein Name untrennbar verbunden mit dem viel zitierten "Geist der Kammerspiele". Dazu gehörte von Anfang an die Strahlkraft eines hochkarätigen Schauspielensembles. Dazu gehörten aber auch der Wille und das Vermögen, junge Schauspieler zu entdecken und zu fördern, Mut zum Wagnis, eine Kultur der Sorgfalt, Neugier und Behutsamkeit.

"In den zwanziger Jahren bereits waren diese Kammerspiele nicht nur ein Theater, sie waren eine ins Leben wirkende und stilbildende Kraft. Man bekannte sich zu ihnen wie zu einer Weltanschauung", so beschrieb Hans Gebhart 1951 in der Neuen Zeitung die Bedeutung dieser weit über München hinaus wirkenden Bühne.

1922 gab es gleich drei Uraufführungen, die Theatergeschichte machten: Arnolt Bronnens "Vatermord", Knut Hamsuns "Spiel des Lebens" und Bertolt Brechts "Trommeln in der Nacht", mit dem der 24-jährige Autor gegen das Illusionstheater der Naturalisten zielte. Entsprechend hingen im Parkett Sprüche wie "Glotzt nicht so romantisch!".

1926 dann der Wechsel in das Schauspielhaus an der Maximilianstraße: von der Vorstadt in die City, in den schönen, mit mehr als 700 Plätzen allerdings auch viel größeren Riemerschmid-Jugendstilbau. Zuvor war hier, seit 1919, Hermine Körner die Leiterin, finanziell so schwer geplagt, dass sie an Falckenberg übergab. Der eröffnete am 19. September 1926 mit "Dantons Tod", Kurt Horwitz und Hans Schweikart in tragenden Rollen. "Hamlet", "Tasso", "Urfaust", Schiller, Shakespeare, Kleist - die expressionistischen Pionierjahre waren vorbei.

Jetzt wurden sie arrivierter, die Kammerspiele, klassischer - aber es blieb der "Geist", der avantgardistische Zug. Und es waren die vorzüglichsten Schauspieler zu bewundern, Therese Giehse, Maria Nicklisch, Horst Caspar und wer nicht alles. Auch der tolle Heinz Rühmann, den Falckenberg entdeckte.

Auch während der Nazizeit blieb Falckenberg am Ruder und versuchte, mit "Urfaust", Shakespeare, Shaw und Hebbel einen einigermaßen brauchbaren Spielplan aufrechtzuerhalten. Ausgebombt 1944, nahm die seit 1939 nicht mehr privat, sondern städtisch betriebene Bühne im Oktober 1945 wieder den Betrieb auf.

Intendant wurde, allerdings nur für zwei Jahre, Erich Engel, der als kaufmännischen Direktor Harry Buckwitz mitbrachte und als Zeichen für den Neuanfang mit vielen deutschen Erstaufführungen aufwartete, angefangen mit Thornton Wilders' "Unsere kleine Stadt" und Anouilhs "Euridike".

Meilensteine & Skandale

Von 1947 bis 1963 übernahm der Schauspieler und Regisseur Hans Schweikart die Leitung, ein Falckenberg-Schüler. In dieser Zeit inszenierte Brecht seine "Mutter Courage", und der für seine ungeheure Genauigkeit ebenso berühmte wie für seine Boshaftigkeit berüchtigte Fritz Kortner begann, sich auf seine alten Tage als Regisseur neu zu erfinden - mit unvergessenen Inszenierungen, die ihn zum Leit- und Vorbild vieler junger Theaterkünstler wie Peter Stein machten.

Legendär: Becketts "Warten auf Godot", 1954 inszeniert mit Ernst Schröder, Heinz Rühmann, Rudolph Vogel und Friedrich Domin - bei der Premiere noch ausgebuht. Oder Kortners "Othello" (1963) mit Rolf Boysen und Doris Schade: auch das ein Meilenstein der Theatergeschichte - an den 40 Jahre später, unter Frank Baumbauers Intendanz, Luk Perceval mit seinem Schock-"Othello" von 2003 auf radikale Weise anknüpfte.

Aber noch mal zurück in der Chronologie. Die Intendanz von August Everding (1963 bis 1973) fiel in die Zeit des Vietnamkriegs und der Studentenproteste, war entsprechend von Unruhen durchzogen: die Geldsammlung für den Vietcong nach Peter Steins Inszenierung von Peter Weiss' "Vietnam-Diskurs" (1968), der "Dra-Dra"-Skandal um die gleichnamige Drachentöterparabel von Wolf Biermann und das dazugehörige Programmheft, gestaltet von Chefdramaturg Heinar Kipphardt. Entlassungen, Polit-Streit, Proteste. Künstlerisch wird Gegenwartsdramatik erkundet: Sartre, Bond, Dürrenmatt, Frisch. Und der junge Kroetz wird entdeckt, was für eine neue, direkte, provokante Stimme!

Als weniger aufregend kann die Intendanz des soliden Theaterlenkers Hans Reinhard Müller gelten (1973-1983). Immerhin holte er mit dem klugen, durchgeknallten Ernst Wendt und dem sinnlich-seriösen Textbefrager Dieter Dorn zwei - auch in ihrer Spannung - hochspannende Regiekönner ans Haus.

Aus dem Rivalitätskampf geht Dorn als strahlender Sieger hervor. Seit 1976 Oberspielleiter, übernimmt er 1983 die Intendanz und prägt mit seinem erlesenen Literaturtheater, seinen Shakespeare-Reisen ("König Lear"!) und Botho-Strauß-Abenden die Ästhetik des Hauses. 25 Jahre lang. Ein gewaltiger Mythos. Eine ganz besondere Erfolgsgeschichte. Eine Liebesgeschichte auch mit dem Ensemble, dem berühmten - und mit dem Publikum, das dieses Theater so verehrt.

Der Wechsel zu Baumbauer war 2001 dann erst mal ein Schock. Phantomschmerzen durch radikal neue Sichtweisen, Spielweisen. Zwölf Stunden "Schlachten!" von Perceval im Ausweichquartier Jutierhalle: ein Wahnsinns-Parcours. Andreas Kriegenburg, Jossi Wieler, Thomas Ostermeier - völlig neue Regiehandschriften.

Dann der Wiedereinzug ins sanierte Schauspielhaus 2003 mit dem Perceval-"Othello", erst skandalisiert, dann Kult. Der ästhetische Wandel gelang - und wird seit 2010 von dem Niederländer Johan Simons noch weitergetrieben: Richtung Europa, Internationalisierung, Welt.

Ein Abenteuer ist es nach wie vor.

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