28-Jährige übernimmt Antiquariat:Web und Leder

Jünger als jedes Buch im Laden: Die 28-jährige Franziska Bierl übernimmt das mehr als 200 Jahre alte Antiquariat Wölfle in München - und das in einer Zeit, in der E-Reader weit größere Statussymbole sind als alte Bücher.

Lisa Sonnabend

Je älter ein Buch, desto wertvoller - dies gilt so gut wie überall, nur nicht im Antiquariat Robert Wölfle in der Maxvorstadt. Denn dort werden Bände aus längst vergangenen Jahrhunderten von Tag zu Tag billiger. Alles muss raus. 45, 50, inzwischen manchmal gar 75 Prozent Rabatt. Auch auf die Bücher aus dem 16. Jahrhundert, auf Kalender aus dem München von 1903 oder historische Tierdrucke. Der Ausverkauf in einem der traditionsreichsten Antiquariate der Stadt hat begonnen.

Ein Kunde tritt hinein, sein Gesichtsausdruck fragt erschrocken: Geht die Geschichte des Antiquariats Robert Wölfle nach mehr als 200 Jahren zu Ende? Nein. Der Laden in der Amalienstraße 65 schließt nicht, er verändert sich nur. Christine Grahamer, die das Geschäft in fünfter Generation als Familienbetrieb führt, ist 66 Jahre alt und hat beschlossen, kürzer zu treten. Ihre Kinder wollen das Geschäft aber nicht weiterführen. Auf dem Schild über der Eingangstür wird deswegen von April an nicht mehr Antiquariat Robert Wölfle stehen - sondern ein neuer Name: Franziska Bierl.

Bierl trägt Jeans und eine schlichte, grüne Strickjacke, ihre dunkelbraunen Haare enden auf Kinnhöhe. Gerade einmal 28 Jahre ist sie alt. Unglaublich jung, für eine Frau, die ein Antiquariat übernimmt, in einer Zeit, in der ihre Generation Bücher fast ausschließlich übers Internet bezieht. Und in der für viele ein E-Reader ein größeres Statussymbol ist als die Reihe Bücher im Wohnzimmerregal. Ein wagemutiges Vorhaben.

Doch Franziska Bier lacht nur. Für sie ist dieser Schritt keineswegs ungewöhnlich. Denn mit alten Büchern hat sie schon seit ihrer Kindheit zu tun. Ihr Vater besitzt ein Antiquariat in Eurasburg, nicht weit vom Starnberger See. Franziska Bierl und ihre Schwester spielten früher fast täglich in dem Laden und bauten sich im Regal eine Wohnung. Als Bierl lesen konnte, verschlang sie dort die Werke von Ludwig Thoma. Als Studienfach wählte sie dann Bayerische Geschichte. Sie brach es allerdings ab, als sie ein Praktikum in einem Auktionshaus machte. Denn dort blieb sie gleich, um zu arbeiten. Und nun das eigene Antiquariat. Bierls Freunde können diesen Schritt nicht nachvollziehen. "Die sind aber auch alle Lehrer", sagt Bierl. Sie selbst nennt es "eine einmalige Chance".

Gerade hat Bierl Katia Manns "Meine ungeschriebenen Memoiren" durch, jetzt ist "irgendso ein Taschenbuch" dran. Den Titel will sie nicht verraten. "Ich suche mir nicht immer nur hochtrabende Literatur aus", sagt sie. Wenn einmal kein Kunde im Laden ist, streift Bierl die Regale entlang, zieht einen Band heraus und liest. Bierl sagt: "Wenn ich ein altes Buch aufschlage, die alten Besitzvermerke sehe und nachforschen kann, wer das Buch schon einmal in der Hand hatte - das fasziniert mich."

Mit 91 noch im Laden

Bis 1778 reicht die Geschichte des Antiquariats zurück. In Ingolstadt wurde damals Bayerns erste Landesuniversität gegründet, der Bedarf für eine Verlagsbuchhandlung war plötzlich da. Studenten erwarben hier Bücher in lateinischer Sprache, wissenschaftliche Werke und Dissertationen. Als Kurfürst Maximilian IV. Joseph 1800 die Landesuniversität nach Landshut verlegen ließ, folgte der Buchladen - später auch nach Freising und schließlich 1923 nach München in die Amalienstraße. Zunächst war das Antiquariat in der Hausnummer 74 untergebracht, 1938 zog Robert Wölfle in die Nummer 65 um, die heutige Adresse. Nach seinem Tod 1943 übernahmen die Töchter Lotte Roth-Wölfle und Getrud Wölfe das Geschäft - Grahamers Mutter und Tante. Ein Foto zeigt den Laden während des Zweiten Weltkrieges: Die Fenster sind mit Holz verbarrikadiert, auf der Amalienstraße türmen sich Schuttberge, doch die Eingangstür ist geöffnet. Sie blieb es bis Kriegsende.

Bereits in den Fünfzigern war Christine Grahamer oft mit ihm Laden. Die 66-Jährige sagt: "Ich habe den Bücherstaub und die Liebe zu den Büchern quasi mit der Muttermilch eingeimpft bekommen." 1972 stieg die promovierte Kunsthistorikerin als Teilhaberin mit ein ins Geschäft. Von April an wird sie nun zurückziehen. Nur nach Vereinbarung will sie künftig im Laden sein und sich vor allem um die ganz alten Drucke und Stammkunden kümmern. Doch ans Aufhören denkt Grahamer nicht. "Ich könnte meiner Mutter ja gar nicht antun, dass es das Antiquariat Wölfle nicht mehr gibt." Lotte Roth-Wölfle wird bald 99 Jahre alt. Grahamers Tante stand noch im Laden, als sie bereits 91 Jahre war.

Nur das Knistern fehlt

Bierl dagegen ist jünger als jedes der Bücher im Antiquariat und kann diese allein schon deswegen gar nicht alle gelesen haben. Ob Kunden ihren Empfehlungen genauso vertrauen wie denen ihrer Vorgängerin? Bierl sagt: "Ich bin froh, dass Frau Dr. Grahamer mir weiter mit ihrem Rat zur Seite steht." Und das macht sie so oft, dass man den Eindruck bekommt, sie will oder kann doch noch nicht loslassen. Noch gibt sie den Ton an.

Die beiden Frauen sitzen an einem Tisch im ersten Stock des Antiquariats. Es ist ein wenig eng, alle Wände sind mit Regalen zugestellt. Der Dielenboden knarzt, wenn sich eine von ihnen bewegt. Vor den beiden ist ein dickes Buch aus dem Jahr 1553 aufgeschlagen. Der Einband ist aus festem Leder, die Seiten vergilbt, der Text in altdeutscher Schrift. Abgebildet sind: Karpfen, Forellen oder Renken - als Holzschnitte in Lebensgröße. Ein Gesetz schrieb damals in Bayern vor: Jeder Fisch, der gefangen wird und größer als der in dem Buch abgebildete ist, muss wieder zurück ins Wasser geworfen werden. Auf einem Bücherstapel liegt ganz oben der bunte Band "Lustige Tierbilder" des Münchner Autors Lothar Meggendorf - aus dem Jahr 1886. Man kann an Pappstreifen ziehen, die unten an den Seiten herausragen, und ein Esel bewegt den Kopf hinunter zum Futter. Ein bewegliches Bilderbuch, wie es auch Kinder im Jahr 2011 lieben.

Natürlich sollen die Kunden diese und ähnliche Bücher auch weiter in dem Antiquariat finden. Das Konzept möchte Bierl nicht ändern, nur die Internetpräsenz soll ausgebaut werden. All diejenigen, die keine Zeit mehr zum Stöbern vor Ort haben, sollen online Bücher kaufen, auch wenn das Knistern beim Umschlagen der Seiten und der Geruch der alten Einbände ins Netz nicht zu transportieren ist. Aber Bierl muss diesen Schritt gehen, um endlich auch ihre Generation für das Antiquariat zu begeistern.

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