Süddeutsche Zeitung

Verena Bentele:Sie weiß, wer zu kämpfen hat

Die Präsidentin des Sozialverbandes VdK, Verena Bentele, will die Bundesregierung mit wachsender Ungleichheit nicht so leicht davonkommen lassen.

Von Johanna Pfund

Mit Konjunktiven hält sich Verena Bentele bei ihrem Auftritt in der ARD-Talkshow "Hart aber fair" in dieser Woche nicht lange auf, etwa mit einem freundlich einschränkenden "Hätte", "Würde" oder "Es wäre schön". Nein, die Präsidentin des Sozialverbands VdK kündigt unverblümt an, dass ihr Verband gegen die Energiepreispauschale, bei der Renterinnern leer ausgehen, klagen werde. Zwischenzeitlich hat die Ampelregierung zwar angekündigt, die Mehrwertsteuer auf Gas zu senken. Bentele begrüßt das, fordert aber zum Ausgleich des Staatshaushalts nun eine Übergewinnsteuer auf krisenbedingt hohe Firmengewinne.

Denn jetzt ist es in ihrer Sicht angebracht, gleich die großen Fragen zu diskutieren, wie sie sagt. "Wenn wir nicht wollen, dass sich in unserer Gesellschaft viele abgehängt fühlen, ist es jetzt Zeit, über die Verteilung von Reichtum und die Transparenz politischer Entscheidungen zu reden."

Ihr Ehrgeiz, nicht hinter dem sehenden Bruder zurückzubleiben, trug sie weit

Anders als ihre Vorgängerin, Ulrike Mascher, weiß die VdK-Präsidentin aus eigener Erfahrung, dass manche Menschen mehr zu kämpfen haben. Bentele, Jahrgang 1982, wuchs im Bodenseekreis mit zwei Brüdern auf einem Bio-Bauernhof auf, von Geburt an blind. Lediglich Schatten kann sie erkennen. Dies hielt sie als Kind nicht davon ab, Ski zu fahren oder auf Bäume zu klettern oder zum Langlaufen zu gehen. Vieles machten ihre Eltern möglich. Aber sehr früh lernte Verena Bentele auch die Vorteile eines solidarischen Sozialsystems zu schätzen. "Wir bekamen damals in der Schule angepasste Computersoftware. Die 10 000 Mark für den passenden PC für meine Eltern mit zwei blinden Kindern eine finanziell große Belastung gewesen." Ihre Bildungskarriere konnte sie so fortsetzen - bis zum Magisterabschluss in Neuerer Deutscher Literaturwissenschaft an der Münchner Ludwig-Maximilians-Universität.

Das war 2011. Ihr Ehrgeiz, nicht hinter dem sehenden Bruder zurückzubleiben, trug sie noch weiter. Mit 16 Jahren gewann sie im Biathlon ihre erste Goldmedaille bei den Winter-Paralympics in Nagano. Die Krönung folgte 2010 bei den Spielen in Vancouver, als sie fünf Goldmedaillen in den Disziplinen Langlauf und Biathlon holte, was ihr zudem den Titel "Best Female Athlete", bester weiblicher Athlet, einbrachte.

Dabei teilt eine sehbehinderte Athletin wie Bentele immer den Erfolg - mit ihrem Begleitläufer. Meistens sind das Männer, selbst gute Sportler, die voran laufen und Kommandos geben, signalisieren, ob es aufwärts oder abwärts geht, ob eine Kurve zu nehmen ist, ob das Gelände eisig ist. Eine Kunst. Bentele macht bis heute Sport, etwa Laufen und Radfahren, und sie weiß, dass sie auf andere angewiesen ist. Und dass sie diesen Menschen vertrauen können muss, weiß sie spätestens seitdem sie nach einem falschen Kommando einen Unfall hatte. Aber deshalb aufhören? Nein. Im Herbst möchte sie einen Halbmarathon machen, "und ich brauche noch immer Begleitläufer, die fit sind".

Sie selbst hat selten Nein gesagt, wenn andere sie brauchten. Als SPD-Mitglied kandidierte sie für den Münchner Stadtrat, wurde 2014 gewählt, legte das Mandat aber wegen der Ernennung zur Behindertenbeauftragten der Bundesregierung bald nieder. Sie ist die Erste in diesem bisherigen Ehrenamt, die selbst mit einer Behinderung lebt. Verena Bentele ist die erste VdK-Präsidentin, die Geld bekommt. Was nach ihrer Wahl 2018 heftig kritisiert wurde. Sie hält dagegen: "Meine Vorgängerinnen waren alle bereits im Ruhestand und versorgt, ich dagegen stehe mitten im Berufsleben, und das Amt ist nicht so nebenbei auszufüllen." Offensichtlich überzeugt sie mit ihrer Haltung: Seit ihrem Amtsantritt stieg die Zahl der Mitglieder deutlich auf jetzt mehr als 2,1 Millionen. Allein angesichts dessen hat der Verband - 1946 zur Beratung der Kriegsgeschädigten, Witwen und Waisen gegründet - genug zu tun. Etwa Menschen bei Renten- oder Pflegeanträgen beraten. Das sind genau diejenigen, die unter der aktuellen Inflation am meisten leiden. Könnte sein, dass die VdK-Präsidentin das nicht so einfach hinnimmt.

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