Tschechische Republik:Mehr Havel wagen

Tschechische Republik: Vor zehn Jahren starb der frühere Präsident der Tschechoslowakei, Václav Havel (1936-2011): Er war während der kommunistischen Herrschaft einer der führenden Regimekritiker.

Vor zehn Jahren starb der frühere Präsident der Tschechoslowakei, Václav Havel (1936-2011): Er war während der kommunistischen Herrschaft einer der führenden Regimekritiker.

(Foto: Regina Schmeken)

An diesem Freitag wurde in Prag das neue Regierungskabinett vereidigt - es will einen Neubeginn wagen im Sinne eines großen Vorbilds.

Kommentar von Viktoria Großmann

Er war immer mit dabei: auf T-Shirts, auf Plakaten, im Herzen: Das Bild von Václav Havel sah man überall in Tschechien auf den Demonstrationen gegen die alte Regierung, die im Oktober abgewählt wurde. Dabei ist es am 18. Dezember schon zehn Jahre her, dass Václav Havel starb. Der Dramatiker und politische Häftling, der nach der Revolution im Dezember 1989 Präsident der neuen, demokratischen Tschechoslowakei wurde - und dem Land das menschliche Antlitz gab, das es 1968 nicht hatte bekommen dürfen, als Panzer des Warschauer Paktes den Prager Frühling erstickten.

Mehr als seine Initialen, versehen mit einem Herzen, braucht es nicht, damit jeder im Land weiß, um wen es geht: "10 Jahre ohne V. H." heißen die Aktionen, die an ihn erinnern sollen. Mehrere Politiker der neuen Regierung hatten sich schon im Wahlkampf zu Havel als Leitfigur bekannt, zu seiner Überzeugung, dass Liebe und Wahrheit über Lüge und Hass siegen. Eine beliebte Frage in Feuilletons und Kommentaren lautet bis heute: Was würde Havel sagen? Es mag eine Mode sein. Aber es ist auch mehr. Es ist eine Geschichte darüber, was große Vorbilder vermögen.

Es begann mit ein paar jungen Leuten

An diesem Freitag hat der tschechische Präsident Miloš Zeman die neue Regierung ernannt. Wieder gibt es einen demokratischen Aufbruch, eine Niederlage für den bisherigen Premier Andrej Babiš wie auch für Präsident Zeman. Babiš hatte persönlichen Ärger mit Brüssel - die Kommission sah ihn wegen seiner Beteiligungen an Firmen, die Millionen an EU-Subventionen erhielten, im Interessenkonflikt. Zeman unterstützte Babiš stets.

Nun bekommt Tschechien eine Fünf-Parteien-Koalition, von christlich-konservativ bis linksliberal. Es sind Parteien, die sich in vielem uneins sind, sich aber im Wahlkampf zusammenschlossen, gemeinsam gewannen und nun gemeinsam - wie verabredet - die Regierung bilden.

Das haben sie nicht allein geschafft. Es brauchte eine anfangs sehr kleine Gruppe engagierter junger Leute, damit die Parteien aufhörten, einander zu bekämpfen, und einsahen, dass sie bei allen Unterschieden eines eint: der Wunsch nach einer Regierung, für die man sich nicht schämen muss. Einer Regierung, die für die Bürger des Landes arbeitet und nicht für das eigene Konto. Eine Regierung wie eine Firma führen, wie es Babiš verkündet hatte? "Wir sind nicht deine Angestellten", ließen ihn Demonstranten wissen, die sich auf Initiative dieser anfangs so kleinen Gruppe schließlich zu Hunderttausenden zusammenfanden, um sehr friedlich, sehr freundlich, sehr humorvoll der Babiš-Koalition ihre Meinung zu geigen. Immer dabei: die Erinnerung an die Samtene Revolution von 1989.

Die EU als Heimat aller verschiedenen Heimaten

Dass Havels Andenken noch immer so bedeutend ist, liegt wohl auch daran, dass sich seine Vorstellungen bis heute zu wenig erfüllt haben. Nicht nur die Tschechen, alle Europäer haben Anlass, Havel zu vermissen. Havels politischer Gestaltungswille galt nie allein Tschechien, er galt der Einigkeit Europas, der Versöhnung von Ost und West. Schon kurz nach der Wende mahnte er die Westeuropäer, nicht auf die neuen Nachbarn im Osten herabzusehen. Die gemeinsamen Werte Europas hätten diese über Jahrhunderte mit erarbeitet, mitgeprägt.

Havel bleibt das Idealbild eines Politikers, der weder nur seine persönlichen noch nur die Interessen seines eigenen Landes im Sinn hat. Havel war nicht nur Amtsinhaber, sondern vor allem politischer Mensch - mit einem lebenslangen Auftrag, die Welt zu einem besseren Ort zu machen. Das war nicht naiv, das war gut überlegt. Angefangen bei einem Europa, das eine gemeinsame Verfassung bekäme, die die Kinder in der Schule lernten. Die EU stellte er sich als Heimat aller verschiedenen Heimaten vor.

Wenn im Januar 2023 in Prag ein neues Staatsoberhaupt, das dritte nach Havel, gewählt werden wird, ist klar, an wem es sich messen lassen muss. Die benachbarten Slowaken haben in der Bürgerrechtlerin Zuzana Čaputová schon 2019 eine Präsidentin gewählt, die in Tschechien bewundernd als weiblicher Havel gefeiert wurde.

Havel streckte die Hände nach Deutschland aus - nicht jeder nahm sie

Die neue tschechische Regierung darf nun zeigen, wie sehr sie wirklich im Geiste Havels handeln kann. Wenn es eine skandalfreie Regierung wird, die vier Jahre ohne Streit durchhält, wäre das schon historisch. Dann hätte Europa, gerade auch Deutschland, einen verlässlichen Partner gewonnen. Es war Havel, der Deutschland gleich beide Hände zur Versöhnung reichte. Nicht jeder nahm sie an. Bayern brauchte 20 Jahre, um zuzugreifen - die CSU fürchtete kleinmütig den Zorn ihrer aus dem Sudetenland stammenden Wähler.

Zehn Jahre ohne ihn. Es ist kein Anlass, nur traurig zu sein. Havel ist nicht nur die Vergangenheit des Landes. Sein Vermächtnis ist auch die Zukunft Tschechiens. Hoffentlich nicht nur Tschechiens. Im Sommer 2022 übernimmt das Land die EU-Ratspräsidentschaft. Ein Anlass für alle Europäer, sich öfter zu fragen: Was würde Václav Havel sagen?

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: