Es ist zugleich richtig und grundfalsch, dass Kyle Rittenhouse in keiner Weise für das belangt wird, was im August des vergangenen Jahres in Kenosha im Bundesstaat Wisconsin geschah. Der damals 17 Jahre alte Rittenhouse hatte bei Protesten der Black-Lives-Matter-Bewegung in der Stadt zwei Menschen mit einer halbautomatischen Schusswaffe getötet und einen weiteren verletzt. Es liegt auf der Hand, dass keine auch nur halbwegs aufgeklärte Gesellschaft wollen kann, dass Minderjährige bewaffnet in den Innenstädten erscheinen und Menschen erschießen.
Dennoch ist der Jury in diesem Fall kein Vorwurf zu machen. Sie hat sich an die Regeln des Verfahrens und an die Gesetze von Wisconsin gehalten. Wenn die Gesetze eine Verurteilung nicht hergeben, spielt das Gefühl keine Rolle - auch nicht die Frage, ob man mit dem Freispruch eines marodierenden Teenagers, der zwei Menschen getötet hat, einen gefährlichen Präzedenzfall setzt. In einem Rechtsstaat gilt zuerst das Gesetz.
Prozess:US-Gericht spricht Todesschützen von Kenosha frei
Kyle Rittenhouse erschoss vergangenes Jahr bei Protesten in Wisconsin zwei Demonstranten und verletzte einen weiteren. Die Jury befindet, der damals 17-Jährige habe sich mit seiner Waffe selbst verteidigt.
Das Problem war nicht die Jury. Das Problem liegt viel tiefer.
Mal angenommen, Kyle Rittenhouse wäre an jenem Abend, als er beschlossen hatte, dass er in Kenosha, dem Wohnort seines Vaters, helfen wollte, weil manche Demonstranten brandschatzend durch die Stadt zogen, ohne eine todbringende Waffe erschienen. Mal angenommen, noch weitergreifend, niemand in der Innenstadt von Kenosha wäre mit einer Waffe erschienen. Weil nämlich das Tragen von Schusswaffen verboten wäre.
Bekanntlich ist Waffenbesitz in den USA jedoch alles andere als verboten, und das wird sich auf absehbare Zeit nicht ändern, womöglich nie. Aber es ist wichtig, dieses Gedankenspiel immer wieder durchzuführen: Mit einem Waffenverbot hätte es an diesem Abend in Kenosha ebenfalls gewaltsame Demonstrationen gegeben. Aber mit ziemlicher Sicherheit wäre niemand ums Leben gekommen.
Die Schusswaffenlobby argumentiert bei jeder Gelegenheit, dass nicht die Waffen Menschen töteten, sondern dass Menschen andere Menschen töteten. Wenn nun aber die allermeisten Menschen keine Schusswaffen besäßen?
Das Recht auf Waffenbesitz ist in der amerikanischen Verfassung verankert. Es ist in vielen US-Staaten erlaubt, sichtbar Waffen zu tragen. Dazu kommt, dass in den meisten Staaten ein äußerst weit gefasstes Recht auf Selbstverteidigung gilt. Im Wesentlichen reicht es, wenn jemand auch nur das Gefühl hat, sein Leben oder seine körperliche Unversehrtheit könnten in Gefahr sein, um das Nutzen, das Abfeuern der Waffe legal zu machen.
Angesichts der unübersichtlichen Lage bei den Demonstrationen in Kenosha, mit Gruppen, die einander teils physisch angriffen, war es daher ein Leichtes zu argumentieren, Rittenhouse habe eine Bedrohung für sein Leben empfunden. In solchen Gemengelagen ist die Rechtslage in den USA de facto eine Lizenz zum Töten. Deshalb wurde Rittenhouse freigesprochen.
Hier gilt allerdings eine entscheidende Einschränkung: dass Kyle Rittenhouse, wäre er ein 17 Jahre alter Afro-Amerikaner, ebenso freigesprochen worden wäre, ist äußerst fraglich. Es ist sogar zu bezweifeln, dass ein mit einem halbautomatischen Gewehr bewaffneter schwarzer Junge, der soeben zwei weiße Männer getötet hat, Selbstverteidigung oder nicht, den Tatort lebend verlassen hätte.