Süddeutsche Zeitung

USA:Seine letzte große Tat

Der Rücktritt von Stephen Breyer als Richter am Supreme Court offenbart Ernüchterndes über den Zustand einer altehrwürdigen amerikanischen Institution. Und birgt eine einmalige Chance für Präsident Joe Biden.

Kommentar von Christian Zaschke

Dass der Verfassungsrichter Stephen Breyer von seinem Posten am Supreme Court der USA zurücktreten wird, ist in vielerlei Hinsicht bedauerlich. Vor allen Dingen ist es eine Kapitulation vor der Realität. Breyer erkennt damit an, was einerseits offensichtlich ist, was er aber andererseits öffentlich immer bestritten hat: Das oberste Gericht der Vereinigten Staaten ist von Ideologie geprägt und ein Instrument der Parteipolitik.

Breyer ist 1994 vom demokratischen Präsidenten Bill Clinton an das Gericht berufen worden. Seither ist er nicht müde geworden zu betonen, dass die Richterinnen und Richter, einmal ernannt, ihre politischen Überzeugungen hinter sich lassen. Das entsprach schon 1994 nicht der Wahrheit, und heute ist es nahezu grotesk zu behaupten, der Supreme Court stehe über den Niederungen der Tagespolitik.

Nun ist Breyer nicht naiv. In seinen knapp 30 Jahren am Supreme Court sah er sich stets einer Mehrheit an Kolleginnen und Kollegen gegenüber, die von republikanischen Präsidenten ernannt worden waren. Er weiß allzu gut, was es heißt, in der Minderheit zu sein, und er hat allzu oft aus der Nähe gesehen, wie Argumente so verdreht wurden, dass sie mit der jeweiligen Ideologie zusammenpassten. Dessen machen sich übrigens beide Seiten schuldig. Die Entscheidungen des Gerichts sind daher nicht immer, aber immer öfter vorhersehbar.

Die Zeit drängt, denn im Herbst ist vermutlich die Mehrheit im Senat futsch

Dass Breyer dennoch fortwährend die Unabhängigkeit des Gerichts betonte, zuletzt in einem im vergangenen Herbst erschienenen Buch, ist ihm hoch anzurechnen. Die dahinterstehende Idee war, dass zumindest er selbst seine Behauptung mit Leben füllen würde. Er wollte als Beispiel vorangehen und zugleich die Realität durch Wort und Tat dazu zwingen, sich seiner Sicht anzupassen, sich dieser zu beugen.

Aus diesem Grund hatte es Breyer lange abgelehnt, vorzeitig abzutreten. Warum auch? Die Richterinnen und Richter werden auf Lebenszeit ernannt, und in seiner öffentlich propagierten Weltsicht spielt es ja keine Rolle, wer von wem ernannt wurde.

Die Realität hingegen ist diese: Vermutlich werden die Republikaner im Herbst den Senat zurückerobern. Ohne Mehrheit im Senat ist es dem Präsidenten im Klima der Spaltung in Washington jedoch nicht möglich, jemanden ans Verfassungsgericht zu senden. Die Republikaner haben das im letzten Jahr von Barack Obamas Amtszeit auf brutale Weise bewiesen, als sie sich weigerten, dessen Kandidaten für eine frei gewordene Stelle auch nur anzuhören.

Der Präsident schielt auf die Stimmen der afroamerikanischen Wähler

Breyer mag auch künftig von der politischen Unabhängigkeit des Gerichts sprechen, seine letzte große Tat offenbart jedoch, dass er es besser weiß. Er ist 83 Jahre alt, und die Demokraten werden demnächst wohl auf längere Zeit niemanden mehr nominieren können. Mit seinem Rücktritt gibt Breyer dem Präsidenten die Chance, ein Versprechen einzulösen: erstmals eine schwarze Frau ans Gericht zu bringen. Das passt Biden, so zynisch das klingt, vor allem wahltaktisch gut ins Konzept: Er braucht bei den Midterms im Herbst die afroamerikanischen Stimmen.

Für Stephen Breyer sieht es am Ende seiner langen Laufbahn so aus, dass sich die Realität seinem Willen nicht gebeugt hat. Mehr noch: dass sie in letzter Konsequenz über dem Recht steht.

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