Urteil:Chuzpe ja, Hirngespinste nein

Um die Welt zu verändern, bedarf es neben Visionen auch eines Spritzers Wahnsinn. Daraus darf jedoch kein ganzes Lügengebäude entstehen - wie jetzt im Fall der Elizabeth Holmes.

Kommentar von Claus Hulverscheidt

Vordergründig ging es im Prozess gegen Elizabeth Holmes nur um eine frühere Star-Unternehmerin, die Geldgeber und Öffentlichkeit mit hanebüchenen Versprechen betrogen hat. Derlei Wirtschaftsdelikte gab es und wird es immer geben. Dennoch ist der Fall besonders, denn die Gründerin der US-Blutanalysefirma Theranos spielte jahrelang mit den Hoffnungen vieler Bürger, die unter einer nicht identifizierten Krankheit leiden oder sich ein großes Blutbild mangels Krankenversicherung bisher schlicht nicht leisten konnten.

Vor allem aber wirft der Prozess ein Schlaglicht auf jenes inoffizielle Motto der Tech-Branche, das bisher stillschweigend toleriert worden war: "Fake it till you make it" - tue so, als könntest du es schon, bis du es tatsächlich kannst. Gemeint ist: Damit man die Zeit und vor allem das Geld erhält, das nötig ist, um die Welt zu verändern, ist ein wenig Flunkern erlaubt.

Der Gedanke ist nachvollziehbar, denn wenn der Krebs besiegt, der Mars besiedelt und der Klimakollaps verhindert werden sollen, dann wird das nicht ohne Menschen gehen, die Visionen, Chuzpe und auch einen Schuss Wahnsinn in sich vereinen. Es bleibt jedoch Aufgabe der Aufsichtsämter, der Staatsanwälte und der Medien, dafür zu sorgen, dass aus überbordendem Optimismus nicht Hirngespinste und aus kleinen Übertreibungen keine Lügengebäude werden. Elizabeth Holmes hat irgendwo auf dem Weg in den Tech-Olymp den Bezug zur Realität verloren und ihn bis heute nicht wiedergefunden. Dafür ist sie jetzt verurteilt worden - zu Recht.

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