Süddeutsche Zeitung

Ukraine:Reden in Kiew, Texte aus Moskau

30 Jahre Unabhängigkeit: Das Land feiert seine Souveränität - und bleibt abhängig von Putins Manövern.

Von Florian Hassel

Wollten ukrainische Historiker einst die jüngere Geschichte der Unabhängigkeit ihres Landes studieren, so hatten sie dafür gerade ein paar Monate Anschauungsmaterial zur Verfügung: die Zeit, als Ukrainer 1918/19 versuchten, in ihrer Heimat einen unabhängigen Staat zu etablieren - bis sie militärisch zusammenbrachen und von der jungen Sowjetunion vereinnahmt wurden, wie zuvor schon vom Zarenreich. Inzwischen stehen den Historikern immerhin schon drei Jahrzehnte zur Verfügung: 1991 war es, als das Land wieder seine Unabhängigkeit ausrief. Was hat es erreicht, wo steht es heute?

Zweifellos hat die Ukraine vor allem anfangs viel Zeit verloren - Zeit, in der ihr etwa das früher wirtschaftlich gleichauf liegende Polen weit davoneilte. Damals teilten frühere sowjetische Apparatschiks und von ihnen hervorgerufene Oligarchen Macht und Geld unter sich auf. Oft verfolgten sie eher russische als ukrainische Interessen, zuletzt der 2014 gestürzte Kleptokratenpräsident Wiktor Janukowitsch und der erst vor Kurzem entmachtete Oligarch Wiktor Medwedtschuk.

Seit der Maidan-Revolution von 2014 ist die Ukraine zum Teil weit vorangekommen, zum Teil tritt sie auf der Stelle. Kaum vorangekommen ist sie bei Reformen der Justiz und der Bekämpfung der Korruption; solange dies so bleibt, wird aus einer Mitgliedschaft in der EU nichts. Weit vorangekommen ist das Land - zumindest in großen Städten - bei zivilgesellschaftlichem Engagement und den bürgerlichen Freiheiten; in der Ukraine geht es ungleich freier zu, als es etwa im autokratisch regierten Russland auch nur denkbar ist.

Präsident Wolodimir Selenskij spielt seine vergleichsweise schlechten Karten so gut aus, wie es möglich ist: ob es um Gaslieferungen aus Russland, westliche Kredite oder Waffenlieferungen geht, oder darum, die Besetzung der Krim nicht in Vergessenheit geraten zu lassen. Freilich ist es Selenskij nicht gelungen, die unselige Pipeline Nord Stream 2 zu verhindern, mit der Deutschland zwar eigene Gaslieferungen sichert, doch der Sicherheit Europas und der Ukraine einen schlechten Dienst erweist.

Wie schrieb Putin, neulich im Juli...

Und auf lange Zeit - jedenfalls nicht, solange Wladimir Putin im Kreml sitzt - wird es der Ukraine auch nicht gelingen, die Krim juristisch oder auch nur faktisch wieder in ihr Staatsgebiet einzugliedern. Gewiss: Mit seiner Aggression auf der Krim und dem Krieg in der Ostukraine hat Putin die Herausbildung nationaler Identität gerade bei jungen Ukrainern so erfolgreich gefördert, wie es kein Kiewer Politiker vermocht hätte. Zugleich ist die Gefahr durch den Kreml keinesfalls beseitigt.

Wichtiger als alle Feierreden zum 30. Jahrestag ukrainischer Unabhängigkeit sind die Texte, die Präsident Putin am 12. und 13. Juli zur angeblichen Einheit von Russen und Ukrainern veröffentlichte. Es sind neoimperiale Manifeste, die für Kiew im besten Fall nur bedeuten, dass Putin zur Annexion der von den russischen Marionettenregimes im Osten, in Donezk und Lugansk, kontrollierten Gebiete bereit ist. Im wahrscheinlicheren Fall aber bedeuten sie, dass Putin auch darüber hinaus alles tun wird, um die Staatlichkeit der Ukraine zu hintertreiben. Die Ukraine hat drei Jahrzehnte Unabhängigkeit hinter sich. Wie sie weitere drei Jahrzehnte später dastehen wird, ist völlig offen.

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