Ukraine:Die besseren Europäer

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Noch weht die Nationalflagge: der 26. Februar in Kiew. (Foto: Genya Savilov/AFP)

Die Ukrainer freuen sich über die plötzlich so breite Unterstützung aus dem Westen. Doch sie hätten auch ohne solche Hilfe alles in diesen Kampf geworfen.

Kommentar von Cathrin Kahlweit

In der Ukraine kursiert ein berühmtes Gemälde des russischen Malers Ilja Repin; es heißt "Die Saporoger Kosaken schreiben dem türkischen Sultan einen Brief". In den sozialen Medien läuft es unter "Die Antwort" und soll angesichts der existenziellen Bedrohung Mut machen: Sultan Mehmed IV. hatte von den Kosaken am Dnjepr vor 350 Jahren die sofortige Unterwerfung gefordert, doch die schrieben ihm in höchst blumiger Sprache, er solle sich zum Teufel scheren.

Ilja Repins Gemälde "Die Saporoger Kosaken schreiben dem türkischen Sultan einen Brief" (1891 vollendet) dient vielen Ukrainern gerade als Vorbild. (Foto: gemeinfrei)

Geht es nach einer Nation, die gerade ihre Freiheit gegen Putins Invasorentruppe verteidigt, dann soll sich auch jene mitsamt ihrem Moskauer Sultan zum Teufel scheren. Die Gegenwehr der ukrainischen Armee ist groß und die Kühnheit, mit der sich Zivilisten Panzern entgegenstellen, bewegend. Militärisch unterlegen, aber moralisch überlegen - so sieht sich eine Bevölkerung im Abwehrkampf. Die längste Zeit sah sie sich auch auf sich gestellt gegen den übermächtigen Aggressor; die Chuzpe und der Zusammenhalt der Kosaken galten als Vorbild und als einzige Rettung.

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Denn noch vor dem Überfall, als Moskau täglich ein Stück weiter an der Eskalationsschraube drehte, war man in der Ukraine überzeugt: Wenn es zum Äußersten kommen sollte, würde man diesen Kampf allein fechten müssen. Kein Verteidigungsfall, keine Einmischung der Nato, keine Waffen aus Deutschland, schwache Sanktionen einer auf die eigenen Wirtschafts- und Sicherheitsinteressen fixierten westlichen Welt: Das war die Ansage, die Erwartung.

Die Mehrheit der Ukrainer kann sich nicht mehr vorstellen, fremdbestimmt zu leben

Dass nun alles anders gekommen ist, quittiert man in der Ukraine nicht nur mit Dankbarkeit, sondern auch mit Genugtuung. Hatte man nicht seit Jahrzehnten, seit der Unabhängigkeitserklärung, seit der orangenen Revolution, zumal seit dem Maidan-Aufstand gezeigt, wohin man wollte? Wohin man gehörte? Erst die russische Aggression habe die Mehrheit der Ukrainer zu Fans der Nato und der EU gemacht, liest man in westlichen Analysen, dabei wird umgekehrt ein Schuh draus: Die große Mehrheit der ukrainischen Bürger kann sich nicht mehr vorstellen, fremdbestimmt in einer Autokratie zu leben.

Nun also spricht man, nicht nur in Deutschland, von einer Zeitenwende. Plötzlich ist alles möglich, ist die Sicherheit der Ukraine die Sicherheit Europas. Das hatte man nicht zuletzt auf dem Euromaidan schon 2013 so gesehen: Viele Demonstranten fühlten sich damals in ihrer Euphorie angesichts von Zerfallserscheinungen, Streitigkeiten und Wertedebatten in der EU als die besseren Europäer. Auch heute fühlen sie sich als Vorhut in einem Kampf für westliche Werte. Kein Wunder, dass Präsident Wolodimir Selenskij einen Tag nach den historischen Beschlüssen in Berlin und Brüssel die EU-Mitgliedschaft seines Landes fordert - wissend, dass das nach wie vor ein ferner Traum wäre, selbst wenn die russische Armee in den nächsten Tagen das Land nicht in Schutt und Asche legen sollte.

In ukrainischen Medien werden nicht nur die höhnischen Kosaken von Ilja Repin geteilt, sondern auch Solidaritätsadressen und Hilfsangebote aus dem Westen, Bilder von Demonstrationen und Aktionen, von blau-gelben Fahnenmeeren in europäischen Hauptstädten und der großen Welle der Sympathie. Das trifft den Nerv, das mobilisiert. Aber da ist, nach Jahren der Zurückweisung, auch dieses Gefühl: Wir hätten auch ohne eure Hilfe alles in diesen Kampf geworfen. Wir geben unser Leben.

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