In der Ukraine wird, wie in jedem Krieg, nicht nur mit Waffen gekämpft, sondern auch mit Worten. Gefeuert wird dabei aus großen Kalibern, und ein besonders niederträchtiges Beispiel dafür hat Russlands Außenminister Sergej Lawrow geliefert, als er eine Verbindung herstellte vom jüdischen ukrainischen Präsidenten Wolodimir Selenskij zu Adolf Hitler, der auch "jüdisches Blut" gehabt habe. Beide seien trotzdem Nazis, erklärte Lawrow, und überhaupt seien die "eifrigsten Antisemiten oft selbst Juden". Die Empörung ist verständlicherweise groß, vor allem in Israel.
Dabei ist Lawrows Entgleisung nur die konsequente Fortführung der russischen Propaganda. Gewiss ist sie hier besonders perfide, weil darin die Juden selbst verantwortlich gemacht werden für ihre Verfolgung. Das ist ein Antisemitismus-Klassiker. Doch die Linie hatte Präsident Wladimir Putin schon bei Kriegsbeginn vorgegeben, als er die "Entnazifizierung" der Ukraine als Ziel ausgab. "Nazis" sind damit aus Moskauer Sicht nun alle, die sich dem russischen Vorgehen entgegenstellen. Der Vorwurf traf zuletzt auch die Abgeordneten des deutschen Bundestags, als sie der Lieferung schwerer Waffen an die Ukraine zustimmten.
Überall sind nun wieder die Nazi- und Holocaust-Vergleiche zu hören - und der jüdische Staat, errichtet vor 74 Jahren auf den Trümmern der Shoah, sieht sich plötzlich wieder dazu genötigt, etwas klarzustellen, das eigentlich selbstverständlich sein müsste: In scharfen Worten zieh Israels Premierminister Naftali Bennett den russischen Außenminister der Lüge. Er solle sofort aufhören, Nazizeit und Holocaust zu instrumentalisieren. Ganz ähnlich hatte er das schon vorige Woche formuliert in seiner Rede zum israelischen Holocaust-Gedenktag: "Kein Ereignis in der Geschichte, so grausam es gewesen sein mag, ist mit dem Holocaust vergleichbar", sagte er dort. Dies allerdings war nicht an Moskau gerichtet, sondern an Kiew.
Das Unrecht, das der Ukraine angetan wird, steht für sich - es braucht keine Analogien
Denn auch auf Seiten der Opfer, der Ukrainer, wird im aktuellen Krieg immer wieder der historische Vergleich bemüht. Als Präsident Wolodimir Selenskij via Video im März zu den Abgeordneten des israelischen Parlaments sprach, kritisierte er das Land nicht nur wegen mangelnder Hilfeleistung, sprich Waffenlieferungen. Er verglich auch das russische Vorgehen gegen die Ukraine mit dem der Nazis gegen die Juden. Putin, so führte er aus, nutze dabei auch dieselbe Terminologie von der "Endlösung".
Gewiss spricht daraus die Verzweiflung des Angegriffenen, des Schutzsuchenden. Selenskijs Vergleich hat nichts gemeinsam mit der kalten und zynischen russischen Propaganda. Dahinter steckt keine Lügenfabrik, sondern die Angst ums Überleben. Aus israelischer Sicht ist die Analogie dennoch verstörend, weil sie letztlich, wie es in einer Erklärung der Jerusalemer Gedenkstätte Yad Vashem hieß, zur "Verharmlosung des Holocaust" führt.
Der Holocaust mit der systematischen Ermordung von sechs Millionen Juden ist ein Ereignis, das sich jedem Vergleich entzieht. Um Russlands Schuld an Kriegsverbrechen in der Ukraine zu bewerten, muss man weder den Holocaust heranziehen noch Putin mit Hitler-Bärtchen zeigen. Jedes Unrecht steht für sich - und ist schlimm genug auch ohne historische Vergleiche, die womöglich zur Verdeutlichung beitragen sollen, aber zur Verzerrung führen.