Süddeutsche Zeitung

Tunesien:Verfassungsrechtler mit einem Hang zum Durchregieren

Der tunesische Präsident Kaïs Saïed setzt kurzerhand den Premier ab, zieht alle Macht an sich - und stürzt die noch junge Demokratie damit in eine tiefe Krise.

Von Paul-Anton Krüger

Kaïs Saïed ist Jurist, genau genommen Verfassungsrechtler. Der 63 Jahre alte, 2019 gewählte Präsident Tunesiens unterrichtete als Professor öffentliches Recht an der Universität Sousse und der Fakultät für Rechts-, Politik- und Sozialwissenschaften der Universität Tunis-Carthage. Er gehörte dem Expertenkomitee an, das im Jahr 2014 die geltende Verfassung erarbeitete, die einzige in einem arabischen Staat, die sich als demokratisch bezeichnen lässt.

Saïed kennt also die rechtlichen Grundlagen, auf die er sich berief, als er in der Nacht zum Montag verkündete, er habe Premierminister Hichem Mechichi abgesetzt und werde selbst an der Seite eines noch zu benennenden Nachfolgers die Regierungsgeschäfte führen. Artikel 80 der Verfassung gibt dem Präsidenten das Recht, im Falle "unmittelbarer Gefahr für die Institutionen des Staates oder die Sicherheit des Landes" jede ihm erforderlich erscheinende Maßnahme zu ergreifen, um das normale Funktionieren des Staates wiederherzustellen.

Seine Gegner sehen die Demokratie in Gefahr

"Wie kann ein Putsch auf dem Gesetz beruhen?", fragte Saïed denn auch treuherzig an seine Kritiker gewandt. Die drei größten Parteien im Parlament werfen ihm einen "Staatsstreich gegen die Verfassung" vor. Sie sehen die Demokratie in Gefahr, die das Volk errungen hat nach dem Tyrannensturz des Jahres 2011 und einer schwierigen Übergangszeit, in der das nordafrikanische Land zeitweise an den Rande eines Bürgerkriegs geriet.

Bevor Saïed den Premier schasst, hätte er diesen ebenso konsultieren müssen wie den Sprecher des Parlaments, Rached al-Ghannouchi. Dieser ist sein mächtigster politischer Gegner, Vorsitzender der gemäßigt islamistischen Ennahda-Partei, die im zersplitterten Parlament die stärkste Fraktion stellt. Der Weg zum Verfassungsgericht, der den Abgeordneten offensteht gegen Notstandsdekrete des Staatschefs und Oberbefehlshabers der Armee, ist nichts wert - auch das ist Saïed sicher klar: Seit 2014 sind dessen Richter im Streit der politischen Lager nicht benannt worden.

Saïed hatte 2019 ohne eine vorherige politische Karriere oder Verbindung mit Parteien in der Stichwahl um das Präsidentenamt mit 72,71 Prozent der Stimmen überraschend den Unternehmer Nabil Karoui besiegt. Er gewann alle Wahlkreise und holte bei den Wählern unter 25 Jahren 90 Prozent der Stimmen - sie leiden am meisten unter der Wirtschaftskrise und der Arbeitslosigkeit.

Die Armeespitze steht bei seiner TV-Ansprache neben ihm

Saïed fehlte es zwar an Charisma. Seine steifes Auftreten und seine Vorliebe für das formale Hocharabisch, das in den Ohren vieler Wählerinnen und Wähler abgehoben klingt, brachten ihm den Spitznamen "Robocop" ein. Doch mit seinem ohne großen Aufwand geführten Wahlkampf, bei dem er in billigen Hotels übernachtete und das Gespräch mit den Leuten suchte, überzeugte er viele, die das politische System für korrupt und nicht reformierbar halten. Seine sozial konservativen, teils drastischen Positionen, etwa zur Homosexualität, traten dagegen in den Hintergrund.

Auf welche Macht er sich stützt, ließ der mit einer Richterin verheiratete Vater von zwei Töchtern und einem Sohn in der Nacht erkennen: Während seiner Fernsehansprache saß die Armeeführung an seiner Seite. Später mischte er sich unter seine jubelnden Anhänger auf der Avenue Habib Bourguiba. Schon seinen Wahlsieg hatte er mit einer "neuen Revolution" verglichen. Nun stellte er sich wieder in eine Linie mit den Protesten des Arabischen Frühlings, dem Aufbegehren gegen korrupte Politiker.

Saïed macht keinen Hehl daraus, dass er eine Reform der Verfassung für nötig hält, die viel Macht in die Hände des Präsidenten legt und die Rechte des Parlaments beschneidet. Das haben die beiden Premierminister unter seiner Ägide zu spüren bekommen, und Saïed hat es den Vorwurf eingebracht, er tendiere zum Autoritären. Zweifellos hat er Tunesiens Demokratie in die tiefste Krise ihres Bestehens geführt - ob daraus noch etwas Gutes erwächst, muss sich zeigen.

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