Türkei:Am ökonomischen Abgrund

FILE PHOTO: A merchant counts Turkish lira banknotes at the Grand Bazaar in Istanbul, Turkey

Die türkische Lira verliert rasend schnell an Wert - weil der Staatschef die Zentralbank wieder einmal zum Senken der Leitzinsen gezwungen hat.

(Foto: Murad Sezer/Reuters)

Mit seiner groß angekündigten Niedrigzinspolitik gefährdet Staatschef Recep Tayyip Erdoğan die türkische Wirtschaft. Die Opposition sieht darin ihre Chance für die kommenden Wahl.

Kommentar von Tomas Avenarius

Noch mehr rhetorisches Tschingderassabum geht in der Türkei kaum. Mit seinem Kampf gegen hohe Zinsen führe er einen "ökonomischen Befreiungskrieg", sagt Staatschef Recep Tayyip Erdoğan - er hatte seinen Zentralbank-Chef gerade zum erneuten Senken der Leitzinsen gezwungen und so den von Experten vorausgesagten Währungsverfall ausgelöst: Die ohnehin angeschlagene Lira verlor an einem einzigen Tag 15 Prozent ihres Wertes.

Und ausgerechnet dieses Desaster soll an die größte Stunde der türkischen Nation erinnern? Der "Befreiungskrieg" ist immerhin die Geburtsstunde der türkischen Republik. Das Land hatte an der Seite Deutschlands den Ersten Weltkrieg verloren, die Sieger wollten das Osmanen-Reich unter sich aufteilen. Aber die Türken gaben nicht klein bei, vertrieben Griechen, Briten und andere Besatzer, gründeten 1923 unter Kemal Atatürk ihre moderne Republik. Die besteht bis heute.

Wegen der schlechten Wirtschaftslage ist die Wiederwahl des Staatschefs gefährdet

Auch Erdoğan hat der Türkei in den 18 Jahren seiner Herrschaft seinen Stempel aufgedrückt, so wie kein anderer Politiker seit Atatürk. Jetzt aber verliert der Präsident wegen der schlechten Wirtschaftslage an Rückhalt, ist seine Wiederwahl gefährdet. Und nun bringt er das Land ökonomisch an den Abgrund. Der selbsterklärte "Zinsgegner" will die Türkei mit seiner Niedrigzinspolitik offenbar zu einer Art von asiatischem Billiglohn-Land machen.

Die Unternehmer sollen mit billigen Krediten und niedrigen Löhnen zu Investitionen verlockt werden, gleichzeitig sollen ausländische Firmen ins Land geholt und so die lahmende Wirtschaft angekurbelt werden. Das sollen die Türken Erdoğan 2023 an der Wahlurne danken - es ist das Jahr des Jubiläums zum 100-jährigen Bestehen der Republik.

Lässt man gängige wirtschaftspolitische Theorien außer Acht, könnte Erdoğans Konzept die Türken überzeugen: "Wir sind entschlossen, mit unserer investitions-, produktions-, beschäftigungs- und exportorientierten Wirtschaftspolitik das Richtige für unser Land zu tun, statt uns dem Teufelskreis aus hohen Zinsen und niedrigen Wechselkursen zu ergeben." Mit einer Turbopolitik billiger Kredite hatte der Populist die Wirtschaft schon einmal angeregt, zu Beginn seiner Herrschaft. Er hatte von 2003 an die Bauwirtschaft gepuscht, die Infrastruktur ausgebaut, das Land modernisiert. Zudem haben ihm die Arabischen Emirate gerade Investitionen in Höhe von zehn Milliarden Dollar versprochen, das ist viel Geld.

Wirtschaftsexperten befürchten, dass die Bevölkerung verarmen wird

Doch das lässt sich nicht so einfach wiederholen. Führende Wirtschaftsexperten warnen, dass die Bevölkerung nun eben wegen dieses Rezepts durch die steigende Inflation weiter verarmen werde, das importabhängige Land wegen der schwachen Lira seine Einfuhren nicht bezahlen und seine Auslandsschulden nicht bedienen könne. Vor allem der Verfall der Lira richtet Schaden an. Die entmachtete Zentralbank erklärte angesichts der geldpolitischen Alleingänge des Staatschefs nur noch lapidar: "Dieser Währungsverfall verläuft völlig losgelöst von den wirtschaftlichen Grunddaten."

Zugleich macht sich Erdoğan mit seiner Zinspolitik politisch angreifbar. Die Opposition hat nun ein Thema, mit dem sie sich als Alternative präsentieren kann. Der Präsident wird also zügig liefern müssen, was kaum gehen wird. Angesichts der Worte vom Befreiungskrieg spottete ein Publizist: "Und was kommt als Nächstes? Der ökonomische Dschihad?"

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