Totengedenken:Die Fähigkeit zu trauern

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Der Bundespräsident nutzt den Volkstrauertag auch zum Gedenken an Opfer von Terror und Hass. Das ist richtig, denn auch die Trauer muss lebendig gehalten werden, wenn sie nicht zum Ritual erstarren soll.

Von Matthias Drobinski

Vor 53 Jahren bescheinigten Alexander und Margarete Mitscherlich den Deutschen eine "Unfähigkeit zu trauern": Statt mitzufühlen mit den Opfern ihrer narzisstischen Liebe zu Adolf Hitler, verdrängten die Bundesbürger kollektiv die schmerzhafte Erinnerung an die Verbrechen und den Verlust im Konsum und der gemeinschaftlichen Gedächtnislosigkeit.

Seitdem ist viel passiert, jedenfalls in der offiziellen Gedenkkultur der Bundesrepublik. An den Jahrestagen der Auschwitz-Befreiung, des Kriegsendes und Kriegsbeginns, am 9. November, gedenken der Staat und seine Repräsentanten der Opfer des Judenmordes, der Gewaltherrschaft, des deutschen Angriffskrieges. Und jener dritte Sonntag im November, der bei den Nazis "Heldengedenktag" hieß, ist ausdrücklich der Trauer um die Weltkriegstoten gewidmet, der Mahnung, dass es nie wieder Krieg und Faschismus geben dürfe.

So gesehen haben die Deutschen das Trauern gelernt, das ihnen die Mitscherlichs 1967 noch absprachen. Sie haben das staatlich organisierte Trauern so gut gelernt, dass die kritischen Fragen an diese Gedenkkultur zunehmen: Erstarrt da nicht die Trauer zum hohlen Ritual, sinkt nicht ihr Wert in der Inflation des Gedenkens, der Vorhersehbarkeit der Appelle?

Daran stimmt: Jedes Ritual ist in Gefahr zu erstarren, banal und inhaltsleer zu werden. Gerade aber eine Demokratie, die auf den Trümmern einer massenmörderischen Diktatur gegründet wurde, braucht solche Rituale des Gedenkens. Sie muss sich darin üben, skeptisch gegenüber den Helden zu sein und empfindlich gegenüber den Opfern von Gewalt. Sie muss die Fähigkeit zu trauern üben.

Die Fähigkeit zu trauern heißt: zu wissen, dass der Boden erschütterbar ist, auf dem man steht. Es bedeutet, sich verwundbar zu machen, die Gleichgültigkeit und Empfindungslosigkeit zu durchbrechen, mit der man sich gerne panzert, persönlich und als Gesellschaft. Wer trauern kann, blickt in die Vergangenheit wie in die Zukunft. Er nimmt wahr, was passiert ist. Und verspricht, dass das Menschenmögliche geschehen soll, damit es nicht wieder passiert. Die Trauer, das erkannten die Mitscherlichs vor 53 Jahren, ist das Gegenmodell zu einer gedächtnislos totalen Gegenwart, die von Vergangenheit und Zukunft nichts wissen will.

Die Fähigkeit zu trauern kann nicht durch Staatsakte herbeigeführt oder gar verordnet werden. Sie muss lebendig gehalten werden, immer aufs Neue. Deshalb ist es gut, dass Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier in diesem Jahr auch ausdrücklich der Opfer von "Terrorismus und Extremismus, Antisemitismus und Rassismus in unserem Land" gedacht hat, nicht nur der Weltkriegstoten und der Opfer der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft.

Ja, auch Europas Friede ist brüchiger geworden, die nationalen Egoismen sind gewachsen. Europas Soldatenfriedhöfe mahnen, wohin das führen kann. Aber die realen Opfer des Terrors und der Gewalt waren in jüngster Zeit in Halle und Hanau zu beklagen, wo antisemitische und rassististische Mörder zuschlugen. Und in Dresden, wo ein Islamist einen Mann erstach. Es ist gut, dass die Bundesrepublik diese Menschen im Gedächtnis behält. Und dass sie verspricht: Wir tun das Menschenmögliche, damit dies nicht wieder geschieht.

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