Als Frank-Walter Steinmeier am Freitagmorgen zum Statement einlud, ahnten manche, dass er sich zu seiner Zukunft äußern würde. Aber nur die wenigsten hielten für möglich, dass er machen würde, was er dann getan hat: seine Kandidatur für eine zweite Amtszeit zu erklären. So viel Risiko, so viel Mut, aber auch so viel Ungewissheit hat es bei einer Kandidatur um dieses Amt noch nicht gegeben. Steinmeier will in eine unwägbare Wahl gehen - für einen amtierenden Bundespräsidenten eine spektakuläre Entscheidung.
Überraschend kommt der Schritt nicht nur für die Parteien; überraschend ist es auch mit Blick auf Steinmeier persönlich. Ja, er hat viele Ämter bekleidet: Chef des Kanzleramts, Außenminister, Fraktionsvorsitzender; und Kanzlerkandidat war er auch. Aber er ist nie ein Fan großer Unsicherheiten gewesen. Jetzt wählt er das volle Risiko. Er kandidiert zu einer Zeit, in der kein Mensch sagen kann, wie im Februar 2022 die Mehrheitsverhältnisse in der Bundesversammlung sein werden. Man kann das Harakiri nennen. Man kann darin aber auch ein großes Selbstvertrauen erkennen. Eines, das erst in seiner Amtszeit so gewachsen ist.
Als der damalige SPD-Chef Sigmar Gabriel ihn nominierte, gab es Zweifel, ob er die Kleider des ewigen Diplomaten würde abstreifen können. Vier Jahre später weiß man: Steinmeier hat zwar nicht alle Getragenheit abgelegt bei seinen Auftritten. Aber er ist in aufgeheizten, heiklen, schwierigen Zeiten zu einem das ganze Land im Blick behaltenden Bürgerpräsidenten geworden.
Er scheut das unangenehme Gespräch nicht
Mag sein, dass er das früh vorhatte. Aber noch stärker haben die Verhältnisse ihn dazu gezwungen. Vom ersten Tag an wurden die Spaltungen im Land zu seinem Thema, aufgeheizt durch die AfD, eine Partei, die mit ungekannter Aggressivität Grundwerte dieser Republik infrage stellt. Hinzu kam eine Pandemie, die erneut Ängste, Frust, Unsicherheiten ausgelöst hat. Im Umgang damit hat Steinmeier zweierlei geleistet: Sobald das Fundament dieser liberalen Demokratie infrage gestellt wird, hält er dagegen - und benennt es, wenn er in den menschenverachtenden Reden und im Handeln von Rechtsextremisten die Parallelen zu den Nazis sieht, zu den Wurzeln der Gewalt, die einst diese legten.
Zweitens ist er vom ersten Tag an dorthin gefahren, wo Kritiker sitzen, Verzweifelte klagen, Minderheiten attackiert werden. Er hat mit Skeptikern der Integration ebenso gesprochen wie mit Kritikern der Pandemie-Politik; er hat junge Migrantinnen ebenso im Schloss Bellevue empfangen wie Menschen, die Angst vor Zuwanderung haben. Daraus, dass er mit vielen geredet hat, auch jenen, die vielleicht unangenehm sind, ist seine ganz eigene Stärke erwachsen.
Nichts ist ausgeschlossen. Auch nicht die Möglichkeit, dass sich Steinmeier mit seiner Chuzpe durchsetzt.