Süddeutsche Zeitung

SPD:Partei auf dem Weg in die Geschichte

Ihr und Wir: Die Sozialdemokraten verbeißen sich im identitätspolitischen Streit um Wolfgang Thierse mal wieder in Fragen der wahren Gesinnung, statt die Lager zu versöhnen. Eine selbstzerstörerische Debatte.

Von Joachim Käppner

Wer hätte je gedacht, dass ausgerechnet ein alter Moralist in der SPD als Fortschrittsfeind angeprangert würde, dessen man sich schämen müsse? Aber genau das haben Saskia Esken und Kevin Kühnert mit Wolfgang Thierse gemacht, weil er die Identitätspolitik der Partei missbilligte und mehr Miteinander forderte. Der Beifall der Gleichgesinnten auf Twitter war den SPD-Granden wichtiger als die Verdienste Thierses um die deutsche Demokratie. Die SPD ist wieder einmal von einem alten Übel der Linken befallen: der Obsession, das Trennende statt des Gemeinsamen zu betonen; auf Dogmatik statt Dialog zu setzen; Ausgrenzung statt Ausgleich zu üben.

Natürlich darf und soll sich eine fortschrittliche Partei mit Initiativen solidarisieren wie "Act-Out", in der Nicht-Heterosexuelle ein Ende von Benachteiligung fordern, wie es ihr gutes Recht ist. Aber die Debatte in der Partei läuft schief, wenn es immer nur um pro und contra "Identity"-Politik geht, um das Ihr und das Wir. Aufgabe einer Volkspartei wäre es doch gerade, die Bewegung zu integrieren und mit anderen Reformkräften unter ihrem Dach zu sammeln, statt die Themen zu ignorieren, die für ihre klassische Kernwählerschaft von Bedeutung sind.

Lieber empörte Opposition als stolze Regierungspartei?

Die SPD unter Willy Brandt zeigte 1969 ihre ganze Stärke als Volkspartei. In ihr fanden sich Intellektuelle, Stahlarbeiter, weltoffene Großbürger und erhebliche Teile der rebellischen Studierenden, der 68er. Man kann ganz gewiss nicht sagen, dass diese Gruppen stets harmoniert hätten. Aber sie alle sahen in der SPD eine Kraft des Fortschritts, die, wie es Brandt formulierte, "mehr Demokratie wagen" würde und dieses Versprechen durch Reformen und die Entspannungspolitik mit Bravour erfüllte. Auch das rot-grüne Bündnis 1998 hat ein breites Spektrum all jener vereint, welche die Erstarrung der späten Kohl-Jahre überwinden wollten. Der Atomausstieg und die sehr berechtigte Weigerung, die Bundeswehr in den Irak-Krieg zu schicken, waren maßgeblich Verdienst der SPD.

Für solche historischen Leistungen braucht man Gestaltungsmacht, und diese gibt es nur über Mehrheiten. Doch ist die SPD auf niederschmetternde 16 Prozent abgestürzt, sie verbeißt sich vor der Bundestagswahl in Streitfragen der wahren Gesinnung und spielt am liebsten die empörte Opposition, statt die Erfolge als Regierungspartei herauszustellen. Nicht mal Grün-Rot-Rot ist bei solcher Schwindsucht möglich. Sollen es andere ruhig besser machen, solange wir es nur besser wissen?

Gerhard Schröder zeigte, wie man Mehrheiten gewinnt

Noch immer gilt: Wahlen werden in der Mitte gewonnen. In den USA stürzte der rechte Demagoge Trump nur, weil die klassische Klientel der Demokraten gegen die oft arg weltfremde akademische Linke den moderaten Joe Biden als Kandidaten durchsetzte. Und Biden gewann nur, weil er ein Bündnis schmiedete, das von der zornigen BLM-Bewegung bis zu hartleibigen Farmern reichte. So etwas ist also möglich, auch wenn die klassischen Milieus längst Geschichte sind. Und das war schon so, als Gerhard Schröder, auf den die Parteispitze heute dünkelhaft herabblickt, als sei er ein rüpelhafter Räuber Hotzenplotz, noch Mehrheiten gewann.

Die SPD hat heute wie damals ein kluges und soziales Wahlprogramm. Doch unter einer Führung, die sich selbst moderat Andersdenkender öffentlich schämt - was hätte Rosa Luxemburg wohl dazu gesagt? -, nützt ihr das nichts. Eher sieht es so aus, dass diese Partei selbst bald auf dem Weg in die Geschichte sein könnte.

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