Der Sozialdemokrat Rolf Mützenich ist so etwas wie ein Gentleman in der Politik. Davon gibt es nicht viele. Umso bemerkenswerter war es, dass er nach dem Rücktritt von Andrea Nahles Fraktionsvorsitzender der SPD wurde. Ausgerechnet einer, der nicht als gestrenger Organisator galt, sondern als kluger, bescheidener, manchmal fast schon leiser Bundestagsabgeordneter. Manche zweifelten zu Beginn an dieser Auswahl; doch es dauerte gar nicht lange und die meisten waren von ihm nur noch begeistert.
So gesehen klingt es fast logisch, dass der SPD-Co-Vorsitzende Norbert Walter-Borjans ihn jetzt am liebsten befördern würde, zum Bundestagspräsidenten. Für Mützenich wäre es eine Ehre, natürlich. Für die SPD aber wäre es ein schwerer Fehler. Das hat nichts mit Mützenich, aber sehr viel mit der Lage des Landes zu tun. Wenn sich die Ampel-Parteien nicht noch auseinanderdividieren, wird in Olaf Scholz ein Sozialdemokrat Bundeskanzler. Und wenn Frank-Walter Steinmeier nicht der Himmel auf den Kopf fällt, dann bleibt er (mit ruhendem SPD-Parteibuch) mindestens bis zur Bundesversammlung Mitte Februar Bundespräsident. Für die Zeit danach ist überdies bislang nur eines klar: dass er noch mal antritt.
Meint es die SPD ernst mit dem Neuanfang, dann muss sie eine Frau nominieren
Womit man wieder bei Mützenich wäre. Und der Frage, ob die SPD auch für die Spitze des Parlaments einen Mann nominieren sollte. Nimmt man die Worte der SPD ernst, die seit Langem für mehr Gleichberechtigung, mehr Frauen an der Macht und mehr politische Teilhabe für alle eintritt, dann kann die Antwort nur lauten: Nein, das sollte sie nicht tun. Ansonsten wäre sie wieder ganz die alte SPD: mit schönen Worten und Männern ganz oben.
Wer das schreibt, muss natürlich mit der Behauptung rechnen, dass man zwar gesucht, aber leider keine geeignete Frau gefunden habe. Das aber wäre schlicht falsch. Wer Aufbruch und Neuanfang signalisieren möchte, der wird unter 86 Frauen in der Fraktion eine Vertreterin finden, die vielleicht noch nicht alles kann und nicht alles weiß (was auch für Wolfgang Schäuble galt), aber selbstverständlich in der Lage sein würde, dieses Amt auszufüllen.
Da wäre zum Beispiel Michelle Müntefering. Sie ist 41 und trägt nicht nur einen berühmten Namen, sondern war in den vergangenen vier Jahren Staatsministerin im Auswärtigen Amt, unterwegs auf manchmal schönen, manchmal auch unangenehmen Missionen. Sie ist zum dritten Mal ins Parlament eingezogen - warum sollte sie das nicht können?
Warum sollte Rolf Mützenich nicht bleiben, was er ist?
Oder da ist Aydan Özoğus. Ja, die 54-Jährige ist nicht bei allen beliebt, aber sie ist schon zum vierten Mal in den Bundestag gewählt worden. Und sie bringt dort Erfahrung und Statur mit, wo es die SPD dringend gebrauchen kann: In den Milieus von Millionen Zuwandererfamilien, die seit Jahrzehnten ums Dazugehören kämpfen. Sicher, Özoğus war für die SPD nicht immer angenehm. Sie kann nämlich charmant sein und zornig. Und sie wurde in den Koalitionsverhandlungen 2017 von Union und SPD als Staatsministerin für Integration eiskalt geschasst, weil die Kanzlerin noch einen Job für die CDU brauchte. Doch wer sich damals in Migrantenvereinen und -familien umhörte, erfuhr schnell, welch positive Wirkung sie dort hinterlassen hatte. Was wäre das für eine Botschaft: Eine mutige Sozialdemokratin mit migrantischen Wurzeln als Bundestagspräsidentin!
Und Rolf Mützenich? Er könnte und sollte selbstverständlich das machen, was er in den letzten Jahren sehr erfolgreich getan hat: Fraktionschef bleiben. Es sei denn, der Gentleman ginge als Minister ins Kabinett. Auch da könnte man einen wie ihn sehr gut gebrauchen.