Süddeutsche Zeitung

Spanien:Ein langer, zu langer Notstand

Die Regierung Sánchez hat sich den Corona-Alarm bis Mai nächsten Jahres verlängern lassen. Das ist unnötig und schadet der Demokratie.

Kommentar von Karin Janker, Madrid

Spaniens Premier Pedro Sánchez hat dazugelernt. Im Juli erklärte er das Virus noch für besiegt und den Beginn einer "neuen Normalität" für gekommen. Dass das vorschnell war, zeigte sich schon wenige Wochen später. Seit dem Sommer steigen die Infektionszahlen rapide. Inzwischen füllen sich die Intensivstationen erneut mit Covid-19-Patienten - und auch Sánchez sieht ein, dass es zur Bekämpfung dieser Pandemie mehr Weitblick braucht.

Der neue Horizont reicht bis 9. Mai 2021. Um mehr als sechs Monate hat die Regierung gerade den Alarmzustand vom Parlament verlängern lassen. Das mag vorausschauend sein. Aber der Demokratie droht dadurch langfristig Schaden.

Alle zwei Wochen Streit und Diskussion waren Sánchez offenbar zu viel

Sánchez ist zugegebenermaßen in einer unbequemen Situation. Der Sozialist führt in Madrid eine Minderheitsregierung, ist ständig auf die Stimmen von Regionalparteien aus Katalonien und dem Baskenland angewiesen. Das erschwert entschlossenes Handeln, welches in Krisenzeiten besonders gefragt wäre. Den ersten Alarmzustand im Frühjahr ließ Sánchez sechs Mal für jeweils zwei Wochen vom Parlament verlängern. Das war mühsam. Es bedeutete alle zwei Wochen Diskussionen, Streit und Vorwürfe von der Opposition.

Um dem vorzubeugen, hat Sánchez nun die Abkürzung bis Anfang Mai genommen. Er hat das Parlament dazu gebracht, seine eigene Selbstmarginalisierung abzunicken. Die Verfassung erlaubt ein solches Vorgehen. Sie schreibt vor, dass der von der Regierung verhängte Notstand auf zwei Wochen befristet sein und eine Verlängerung vom Parlament gebilligt werden muss; nicht aber, wie lange diese Verlängerung maximal ausfallen darf.

Und dennoch hätte Sánchez den Zeitraum kürzer wählen und etwa eine Verlängerung um jeweils einen Monat anbieten müssen. Sánchez' Vorgehen beschädigt das Vertrauen in die Politik, indem es massive Eingriffe in die Grundrechte langfristig der parlamentarischen Kontrolle entzieht.

Die Unsicherheit in der Bevölkerung wächst

Sánchez will durchregieren und nimmt dafür bleibenden Schaden an der Demokratie in Kauf. Den Europa-Feinden und Verschwörungsdichtern rechts außen liefert er so zudem bestes Material. Die rechtsextreme Vox hat als einzige Partei im Parlament gegen den Notstand gestimmt; die Konservativen haben sich enthalten. Die bisher in Spanien noch marginalen Demonstrationen gegen die Corona-Maßnahmen gewinnen Zulauf.

Der Alarmzustand ermöglicht es der spanischen Regierung, die Freiheitsrechte der Bürger massiv einzuschränken. Im Frühjahr etwa diente er dazu, den strengsten Lockdown in Europa zu rechtfertigen, sechs Wochen strikte Ausgangssperre. Das könnte wieder kommen, die Unsicherheit der Menschen wächst.

Der Vorwurf, Sánchez wolle eine Corona-Diktatur errichten, entbehrt allerdings nicht einer gewissen Ironie. Denn seine Regierung könnte ja nun, da sie sich die Erlaubnis vom Parlament hat geben lassen, rigoros handeln. Sie tut es aber nicht. Obwohl die Zahl der Infektionen Rekordwerte erreicht, trifft Sánchez bislang keine Entscheidungen, um landesweit und einheitlich wirksam gegen das Virus vorzugehen.

Nach wie vor kann deshalb jede der 17 Regionalregierungen tun, was sie für richtig hält. Unter diesem Flickenteppich an Regeln verbreitet sich Corona schier unaufhaltsam weiter.

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