Süddeutsche Zeitung

Österreich:Beschämendes Selbstverständnis

Die Regierung in Wien steht auf der Kippe. Bis die Vorwürfe geklärt sind, sollte Sebastian Kurz sich zurücknehmen.

Kommentar von Leila Al-Serori

Die Ibiza-Affäre um den damaligen Vizekanzler Heinz-Christian Strache steckt vielen im Land noch in den Knochen, schon poltert Österreich durch die nächste politische Krise, und was für eine: Im Zentrum der Anschuldigungen steht heute aber nicht der Vize, sondern der Kanzler höchstpersönlich. Gegen Sebastian Kurz und mehrere seiner Gefolgsleute wird wegen des Verdachts auf Bestechung, Bestechlichkeit und Untreue ermittelt. Schwere Vorwürfe, die selbst das korruptionsgewohnte Österreich erschüttern.

Die Grünen, Koalitionspartner der Kurz-ÖVP, sind nach einer kurzen Schockstarre nun auch zu dem Schluss gekommen, dass man nicht einfach so zur Tagesordnung übergehen kann. Sie haben am Donnerstag die Handlungsfähigkeit des Kanzlers infrage gestellt und Gespräche mit der Opposition angekündigt. Die Regierung in Wien steht auf der Kippe.

Das Land hat einen Kanzler verdient, der nicht im Visier der Justiz steht

Es ist nur folgerichtig, dass Sebastian Kurz bei solchen Anschuldigungen nicht einfach so weiter im Amt bleiben sollte. Für einen Kanzler müssen strengere Regeln als das Strafrecht gelten: Bis die Vorwürfe vollumfänglich geklärt sind, sollte sich Kurz zurücknehmen. Österreich hat einen Regierungschef verdient, der nicht im Visier der Justiz steht. Umso bedenklicher, dass weder Kurz noch seine ÖVP den Schritt zurück aus freien Stücken gehen wollen, sondern mit Unverständnis zur Verteidigung rufen. Das zeigt ein Selbstverständnis der Politiker, das beschämend ist.

Tatsache ist aber auch, dass es nicht um eine Person allein und deren mutmaßliches Fehlverhalten geht. Zur Diskussion steht ein politisches System, das durch und durch verdorben ist. Machtmissbrauch, illegale Parteienfinanzierung, die Verstrickung von Medien und Politik, der Staat als Selbstbedienungsladen: All diese Missstände sind nicht erst seit Ibiza bekannt. Gemacht worden ist nur viel zu wenig dagegen. Mit der Folge, dass der Korruptionssumpf nun sogar bis ins Kanzleramt reicht. Es ist dringend ein Neustart geboten, ein sauberer Schnitt - bevor das ganze Land im Sumpf versinkt.

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