Süddeutsche Zeitung

Pandemiebekämpfung:Brauns Vorschlag kommt zur richtigen Zeit

Der Kanzleramtschef schlägt vor, die Schuldenbremse pausieren zu lassen. Das ist eine radikale, aber nötige Wende in der Regierungspolitik. Alte Rezepte helfen in der Pandemie nicht weiter.

Kommentar von Cerstin Gammelin, Berlin

Helge Braun kann sich Streit leisten. Seine Chefin Angela Merkel auch. Die Bundeskanzlerin und der ihr sehr vertraute Mitarbeiter wollen nach der Bundestagswahl nicht wieder ins Kanzleramt einziehen, das macht sie unabhängig genug, um finanzpolitische Vorschläge zu machen, die mancher in Union und FDP als Kapitulation versteht, aber auch einige als das, was sie in dieser Pandemie sind: provokativ, aber konsequent.

Die Bundeskanzlerin hat die Pandemie als Jahrhundertkatastrophe eingestuft. An diesem Superlativ muss sie ihr Handeln messen lassen. Dass sie ihren Kanzleramtsminister nicht daran gehindert hat, im Handelsblatt für eine radikale Wende in der Finanzpolitik zu werben, kann man natürlich als endgültigen Einstieg in die grenzenlose Schuldenmacherei verstehen. Aber tatsächlich ist es ein Gesprächsangebot: So kann es nicht weitergehen.

Mit jedem Tag wird deutlicher, dass Deutschland alle Energie braucht, um gut aus der Pandemie zu kommen. Da ergibt es durchaus Sinn, vorab die mittelfristigen Finanzen zu klären. Was das Kanzleramt will, hat Braun auf den Tisch gelegt: für einige Jahre die im Grundgesetz verankerte Schuldenbremse aussetzen, Steuererhöhungen ausschließen und Sozialbeiträge deckeln. Das ist eine Abkehr von allen Grundsätzen, die vor der Pandemie gegolten haben. Muss das sein?

Die Debatte kommt gerade noch rechtzeitig vor dem Wahlkampf

Für diese Radikalität spricht viel. Die Krise ist so dramatisch in alle Bereiche des gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Lebens diffundiert, dass alle politischen Ziele auf eine Prämisse hin abgeklopft werden müssen: Helfen sie, durch die Pandemie zu kommen? Die Debatte kommt gerade noch rechtzeitig. In ein paar Monaten wird Wahlkampf die Pandemie überlagern, oft wird da im Eifer mehr versprochen, als gehalten werden kann.

Wer jetzt, wie FDP-Chef Lindner, von Kapitulation redet, stelle sich vor, was passieren würde, ginge einfach alles weiter wie bisher. Die Koalition würde 2021 neue Rekordschulden aufnehmen, 180 Milliarden Euro geplant. Sollte 2022 die Schuldenregel voll wirken, die ja die Aufnahme neuer Kredite an das Bruttosozialprodukt koppelt und damit begrenzt, dürfte die neue Bundesregierung noch um die 15 Milliarden Euro neue Schulden machen - was nur mit einer Vollbremsung bei den Ausgaben möglich wäre. Zuschüsse zu Sozialkassen müssten gestrichen werden, ebenso Investitionen, Forschungs- und Bildungsausgaben. Sieht so der Neustart nach der Pandemie aus?

Die Alternative wären Steuererhöhungen im großen Stil, nicht nur wie von der SPD und den Linken gefordert für besonders Vermögende. Sondern für alle, beispielsweise zwei Prozentpunkte bei der Mehrwertsteuer. Will man das, wenn gerade die Pandemie ihren Tribut gefordert hat? Eher nicht. Auf Sicht zu fahren, wie einige in Union und FDP verlangen, und jedes Jahr aufs Neue zu überlegen, ob die Schuldenbremse eingehalten werden kann, wäre sogar fahrlässig. Man produzierte andauernde Unsicherheit, ein fatales Signal an die Bürger, an Investoren - und an Europa.

Wer weiß, vielleicht finden Union und Grüne zueinander

Ja, es ist bitter insbesondere für die Union, dass sie zwar 15 Jahre lang eine Kanzlerin aus ihren Reihen hatte, aber eine Gewissheit nach der anderen hingeben musste: Wehrpflicht, Atomkraft, die Ablehnung der Frauenquote. Und auch, dass nun die letzten Symbole zur Disposition gestellt werden, die Stabilität und Zuverlässigkeit garantieren sollten. Schon 2020 fegte das Virus erst die schwarze Null davon, also den ausgeglichenen Haushalt. Kurz danach war Schluss mit der Ansage, die jahrelang in Europa galt: Kredite nur gegen Reformen, keine gemeinsamen Schulden, niemals. Die EU richtete einen Wiederaufbaufonds ein, der gemeinsam Schulden aufnimmt und das Geld überwiegend als Zuschüsse weiterreicht. Die Union trug es mit - und war sogar ein bisschen stolz auf den eigenen Mut.

Dass ausgerechnet die Schuldenbremse die Pandemie unangetastet überstehen könnte, dürften nur unverbesserliche Traditionalisten geglaubt haben. Seit Monaten werben renommierte Ökonomen zu Recht dafür, die Regel an die neue Zeit der niedrigen Zinsen anzupassen. Die Grünen wollen ohnehin der Sparregel im Grundgesetz eine Investitionsregel hinzufügen, um nicht wieder Verwaltungen, Brücken und Schulen kaputtzusparen. Dazu kommen nun die Zwänge der Pandemie. Es war leicht auszurechnen, dass nicht alles so bleiben wird, wie es ist. Und wer weiß, ob die Debatte Grüne und Union nicht näher zueinanderbringt, als man dachte.

Es ist gut, dass Deutschland über seine Finanzen debattiert. Jenseits der Grenzen wird man aufmerksam verfolgen, welchen Kurs die viertgrößte Volkswirtschaft der Welt einschlägt. Die neu ins Amt gekommene US-Regierung nimmt viel Geld in die Hand, um die Folgen der Pandemie zu bekämpfen. Die Europäische Zentralbank hat ihre Krisenpolitik verlängert. Über kurz oder lang wird die Frage auftauchen, ob der EU-Wiederaufbaufonds aufgestockt werden muss. Dass das Kanzleramt den Streit über den richtigen Weg aus der Pandemie eröffnet hat - umso besser.

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