Russland:Was die Russen wollen

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Gut und sorgenfrei leben, das wollen die meisten Russen. (Foto: Alexander Nemenov/AFP)

Wladimir Putin fühlt sich von der Ukraine bedroht - die Bevölkerung tut das keineswegs. Sie freute sich mehr über den versprochenen höheren Lebensstandard als über einen Eroberungszug. Warum der Präsident dennoch andere Prioritäten setzt.

Kommentar von Frank Nienhuysen

Vor drei Wochen hat Wladimir Putin einen Besucher empfangen, der mit einer alarmierenden Botschaft in den Kreml kam. Sie war sogar so alarmierend, dass man sie als Bedrohung für Russland hätte auffassen müssen. Der Gast heißt Walerij Falkow und ist russischer Wissenschaftsminister. Er berichtete dem Präsidenten, dass es außer in der Atom- und Rüstungsbranche im Land immer weniger Arbeitsplätze für Hochqualifizierte gebe, und die Russische Akademie der Wissenschaften lieferte dazu die erschreckenden Zahlen: Etwa 70 000 "höchstqualifizierte" Forscher verlassen jedes Jahr Russland, gehen stattdessen lieber in die USA, nach Europa, neuerdings auch nach China.

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Wladimir Putin aber fühlt sich vom ukrainischen Präsidenten Wolodimir Selenskij bedroht, der trotz harter Konkurrenz in einer freien Wahl gewählt wurde, von unplausiblen angeblichen Überfallplänen aus Kiew, von Atomwaffen, die der Nachbar möglicherweise eines fernen Tages mit westlicher Hilfe herstellen könnte. In dieser Diskrepanz liegt eine große Tragik.

Was der Kreml will, ist nicht identisch mit dem, was dieser vielfältige Staat will

Immer wieder mal hört man Russinnen und Russen auf der Straße schimpfen, dass der Staat alles zähle und der Einzelne wenig. Aber der russische Staat ist so groß, erstreckt sich über derartige Dimensionen, dass auch dessen Interessen sehr unterschiedlich sein können im Vergleich zu dem, was die politische und militärische Führung in Moskau will.

Die meisten Menschen in Russland, und das gilt sicher auch für viele Staatsbedienstete zwischen Kaliningrad und Magadan, fühlen sich von der Ukraine keineswegs bedroht; sie sähen es gern, wenn die heimische Wirtschaft aufblühte, wenn das Lebensniveau deutlich stiege, wenn sie landesweit ein stabiles, hohes Niveau an Krankenhäusern, Schulen, Straßen und Universitäten erwarten könnten, egal wohin es sie gerade verschlägt.

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Präsident Putin hat all dies der Bevölkerung immer wieder versprochen. Aber dies zu erreichen, dürfte künftig noch schwieriger werden. Auch wenn die Pandemie vorübergezogen sein wird. Denn der Kreml setzt andere Prioritäten. Er setzt auf außenpolitische Triumphe, die offenbar viel von dem kaschieren sollen, was daheim nicht läuft.

Die Anerkennung der Donbass-Gebiete dürfte nur ein erster Schritt sein

Noch ist unklar, wie weit der russische Präsident bereit ist zu gehen und wie tiefgreifend die Reaktionen ausfallen würden. Der Lebensstandard in Russland aber wird langfristig eher sinken statt steigen. Über solche Bedenken setzt sich der Kremlchef hinweg, den Preis dafür kalkuliert er ein. Und er dürfte hoch werden, sollte Russland wahr machen, was Putin sehr stark angedeutet hat: So wie er die Ukraine rhetorisch als unfähiges, rechtsradikales und bedrohliches Marionettenregime dargestellt hat, dürfte die Anerkennung der Donbass-Gebiete nur ein Schritt sein auf dem Weg, Kontrolle über die ganze Ukraine zu erhalten.

Aus seiner Logik folgerichtig und doch seltsam ist die Forderung von Außenminister Sergej Lawrow, dass weitere Länder die Unabhängigkeit der sogenannten Volksrepubliken Donezk und Luhansk anerkennen. Wer sollte das tun? Das distanziert befreundete Kasachstan hat gleich gesagt, das stehe nicht auf der Tagesordnung. Selbst der belarussische Machthaber Alexander Lukaschenko hatte sich acht Jahre lang geziert, dem Wunsch Moskaus nachzukommen und die Annexion der Krim zu akzeptieren.

Auch andere Länder können sich nun große Sorgen machen

Alarmiert sein müssen nun auch andere Staaten, Georgien etwa, das ebenfalls seit vielen Jahren auf seine Nato-Ambitionen gepocht hat, zuletzt allerdings eher still die Eskalationsschübe an den ukrainischen Grenzen verfolgt hat. Putins Genugtuung dürfte fürs Erste schon damit erreicht sein, dass er mit einem weiteren Bruch des Völkerrechts einen ganzen Kontinent in Schrecken versetzt hat. Vermutlich, aber nicht sicher, wird er jetzt erst mal innehalten, um zu sehen, was er in Verhandlungen mit den USA, Frankreich, Deutschland für sein Land herausholen kann. Aber die Gefahr ist groß, dass die Zeitspanne nicht allzu lang sein wird.

Das Problem: Das Minsker Abkommen ist nun erledigt, Russlands Forderungspaket an die USA aber noch auf dem Tisch. Moskau hat darin bewusst alles mit allem verschnürt, Rüstungsgespräche, den Abzug von US-Soldaten aus dem Baltikum, aus Zentral- und Osteuropa, den schriftlichen Verzicht der Nato auf eine Erweiterung. Und weit mehr als 100 000 russische Soldaten stehen noch immer an den ukrainischen Grenzen. Eine weitere Eskalation ist deshalb zu befürchten. Sicher ist nur, dass die russische Bevölkerung nicht gefragt wird.

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