Süddeutsche Zeitung

Russland:Das große Rätsel

Die EU zeigt zu wenig Fantasie im Umgang mit der Regierung in Moskau. Und ein Denkanstoß aus Deutschland fällt vor allem dadurch auf, was nicht in ihm zu finden ist.

Von Stefan Kornelius

Russland ist der große Elefant in der deutschen und der europäischen Außenpolitik. Der Elefant sitzt mitten im Raum, alle sehen ihn, aber keiner sagt: Oh, da sitzt ein großer Elefant, was machen wir denn damit?

Es spräche also vieles dafür, dass sich Deutschland und die EU um eine Großer-Elefant-Politik bemühen, schon allein weil klar ist, dass dieses Tier nicht alleine von Deutschland oder im Dissens der Europäer zu bewegen sein wird. Russland jedenfalls wird sich nicht so schnell bewegen, nicht politisch und schon gar nicht geografisch. Die Bundesregierung braucht also die Deckung und die Geschlossenheit der übrigen EU-Staaten, wenn aus dieser Erstarrung noch ein bisschen Leben entstehen soll.

Der deutsche Diskussionsvorstoß für eine künftige Russlandpolitik der EU ist deshalb gleich doppelt bemerkenswert: für das, was er benennt - und das, was er verschweigt. Auf der Seite der Aktiva steht das bekannte Doppelspiel aus Abschreckung und Einbindung. Abschreckung heißt: Schutz vor Cyberangriffen und Desinformation (die gerade mal wieder kräftig herabregnet); Unterstützung der Staaten in der russischen Peripherie; Sanktionen, solange der Minsker Friedensprozess ignoriert wird. Einbindung könnte heißen: Russland muss in neue Themen verwickelt werden, etwa beim Klimaschutz, um dadurch auch Abhängigkeiten zu erzeugen. Vielleicht könnte so sogar Vertrauen wachsen und ein bisschen Verlässlichkeit eingeübt werden.

Bemerkenswert ist indes, was nicht in dem Diskussionspapier zu finden ist: die Energiepolitik, die Nord-Stream-Pipeline, ein neues Drohpaket. Die Bundesregierung macht durch Auslassung klar, was ihrer Meinung nach nicht zur Verhandlungsmasse in diesen europäischen Schlüsselbeziehungen zählt.

Für diese Sicht gibt es gute politische und juristische Gründe. Die Sanktionspolitik der EU, aber auch der USA stößt schon lange an ihre Grenzen. Sanktionen sind lediglich Ausdruck des Unwillens, der Missbilligung - mehr nicht. Kurzfristig erzwingen sie eine Verhaltensänderung jedenfalls nicht. Den vier russischen Beamten schadet es vermutlich nicht sehr, dass sie nach der Verurteilung Alexej Nawalnys mit Strafen der EU belegt wurden.

Die Nord-Stream-Pipeline passt auch nicht so einfach in die Sanktionssystematik. Sanktionen sollen ja Rechtsgrundsätzen unterliegen und Gleichbehandlung im Unrecht garantieren. Übersetzung: Entweder müssen alle Pipelines nach Europa geschlossen werden oder keine; entweder wird der gesamte Energiesektor sanktioniert oder gar nichts.

All dies ist bekannt, wird aber weder ausreichend diskutiert noch mit der politischen Relevanz behandelt, die Russland nun mal erfordert. Die Desinformationskampagne, der vor allem Deutschland ausgesetzt ist, aber auch der groß angelegte Angriff auf Microsoft und damit Millionen von Mailkonten sind allein Gründe aus 48 Stunden, um der Sache mit mehr Ernsthaftigkeit zu begegnen.

Ein Diskussionspapier liefert diese Ernsthaftigkeit jedenfalls nicht. Im Gegenteil: Es zeugt von der Zaghaftigkeit, der Verdruckstheit, mit der Russland begegnet wird. Während die EU ungebremste Desinformationskampagnen in vielen Mitgliedsstaaten feststellt, darf sich das russische Außenministerium über die Einmischung in innere Angelegenheiten beschweren. Europas Außenpolitik ist noch viel zu fantasielos, um das Potenzial von großen Elefanten zu erkennen.

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