Russland:Eine Warnung an den Kreml

Die Proteste in Russland haben gezeigt: Nawalny kann mobilisieren. Nun muss sich aber erst zeigen, ob es dem Oppositionellen gelingt, seinen Einfluss bis zu den Duma-Wahlen im Herbst zu erhalten oder sogar zu vermehren.

Von Silke Bigalke

Es waren eindrucksvolle Bilder am Samstag aus Russland. Videos aus fast allen Teilen des Riesenlandes fluteten die sozialen Medien. Die Menschen protestierten dort im Fernen Osten, im ewigen Eis Sibiriens, sogar in der Exklave Kaliningrad. Zählt man sie zusammen - und vielleicht wird das nie jemand zuverlässig tun - kommt man wahrscheinlich auf keine umwerfend hohe Zahl. Der Tag dürfte dem Kreml trotzdem Warnung genug gewesen sein.

Zum einen hat der Samstag gezeigt, wie effektiv Alexej Nawalnys Netzwerk arbeitet. Es funktioniert selbst in Zeiten, in denen der Oppositionelle selbst von der Welt abgeschnitten ist. Keine andere Person außerhalb des Kreml schafft es, so viele Menschen zu mobilisieren, wie er. Das galt bereits vor seiner Vergiftung, von der er sich in Deutschland erholt hat. Indem Nawalny nach Russland zurückgekehrt ist, hat er den Machtapparat dort praktisch gezwungen, seine Drohung wahr zu machen und ihn festzunehmen.

Ein dem Tode entronnener Kremlkritiker hinter Gittern war für viele Grund genug zum Protest. Andere trieb das Video auf die Straße, das Nawalnys Team am Dienstag veröffentlicht hat. Es zeigt dessen Recherchen zu den Reichtümern, die Staatschef Wladimir Putin zur Verfügung stehen. Für die meisten Russen ist es zwar nichts Neues, dass ihre Regierung korrupt ist. Doch die Zeiten sind schlecht, die russische Wirtschaft leidet unter der Pandemie. "Putin ist ein Dieb" war einer der häufigsten Rufe bei den Protesten.

Die zeigen aber noch etwas anderes, ganz unabhängig von Nawalnys Schicksal: den wachsenden Frust russischer Wähler, der Kreml reagiert darauf mit immer neuen Repressionen. Dieser Frust schwelt seit Jahren. Bisher hatten Proteste aber kaum Konsequenzen, außer Festnahmen und abschreckende Gerichtsprozesse gegen einzelne Teilnehmer. Man darf die Kundgebungen am Samstag daher nicht überbewerten, sie werden den Kreml kaum in Schrecken versetzen. Man darf sie aber auch nicht kleinreden: Viele Menschen sind trotz aller Risiken gekommen. Sicher sind viel mehr Russen unzufrieden, als sich auf die Straße getraut haben.

Erklärtes Ziel war es, Nawalny zu befreien. In Russland können Proteste einen Menschen vor dem Gefängnis bewahren. Der Fall des Journalisten Iwan Golunow, dem Ermittler Drogen untergeschoben hatten, ist ein Beispiel. Auch Nawalny drohte schon einmal eine mehrjährige Haftstrafe, 2013 war er wegen Diebstahl verurteilt worden. In Moskau brachen spontan Demonstrationen gegen das Urteil aus, der Richter wandelte Gefängnis in eine Bewährungsstrafe um. Die Beispiele sagen viel über Russlands Rechtssystem. Nur wenn Urteile politisch motiviert sind, können Proteste sie verändern.

Nawalny kann kaum mit einem fairen Prozess rechnen, also ruft er seine Unterstützer auf, zu demonstrieren. Etwas Ähnliches tut er übrigens bei Wahlen, zu denen er meistens nicht zugelassen wird. Weil er nicht mit einer demokratischen Abstimmung rechnen kann, ruft Nawalny zum Protestwählen auf.

Deswegen ist nach diesem Samstag vor allem eine Frage interessant: Ob es Nawalny und seinem Team gelingt, ihren Einfluss bis zu den Duma-Wahlen im Herbst zu erhalten oder sogar zu vermehren. Wenn Nawalny frei kommt, dürfte er vor der Abstimmung zur größten Herausforderung für den Kreml werden. Wenn nicht, wird allein die Tatsache, dass Putins einflussreichster Kritiker im Knast sitzt, vor der Wahl wieder Thema werden.

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