Süddeutsche Zeitung

Roma in Europa:Schluss mit der Sippenhaft

Mitten in Europa gibt es Inseln der Dritten Welt: Ghettos der Roma. Das Elend dieser transnationalen Minderheit bewegt die Gemüter. Doch weder handelt es sich kollektiv um Kriminelle und Taschendiebe noch ist allein die jahrhundertelange Diskriminierung schuld an den Missständen. Das Problem ist nur zu lösen, wenn die Roma selbst die Initiative ergreifen und sich von Klischees emanzipieren.

Ein Kommentar von Klaus Brill

Es gibt derzeit in Europa wenige politische Probleme, die so vehement die Gefühle der Bürger strapazieren wie das Elend der Roma. Das Schicksal dieser größten transnationalen Minderheit in der EU bewegt. Dahinter verbirgt sich eines der schwierigsten sozialen Probleme, mit denen fortgeschrittene Gesellschaften derzeit konfrontiert sind. Mitten in Europa gibt es also Inseln der Dritten Welt, wie es in einem UN-Bericht treffend heißt: die Ghettos am Rande vieler Städte in Mittel- und Südosteuropa.

Leider wird die Diskussion über Roma oft gerade nicht sine ira et studio geführt, wie der alte Tacitus es propagierte, also ohne negative oder positive Voreingenommenheit. Zu groß ist das Unwissen über historische und kulturelle Hintergründe, zu widersprüchlich sind die Erfahrungen, die mit Roma an verschiedenen Orten gemacht wurden, auch in Deutschland.

Die Entdeckung eines offenbar entführten oder jedenfalls wider alle Rechtsvorschriften festgehaltenen blonden, weiß-häutigen Mädchens in einer Roma-Siedlung in Griechenland wird nun wieder alle jene in ihren Vorurteilen bestätigen, die schon immer "die Zigeuner" kollektiv für Kriminelle und Tagediebe hielten. Und rituell werden andere dagegenhalten, an solchen Missständen sei eben die jahrhundertelange Diskriminierung der Roma durch die Mehrheitsgesellschaft schuld.

Die Wahrheit ist weder schwarz noch weiß

Beides ist Unsinn, die Wahrheit ist weder schwarz noch weiß. Zweifellos ist die Mentalität der Roma wesentlich mitgeformt durch die seit dem Mittelalter erlittene Erniedrigung, die sich über Generationen als posttraumatische Belastung fortpflanzt. Ähnliches hat man bei den schwarzen Sklaven in den USA diagnostiziert, viele ihrer Nachfahren leben bis heute in den verrotteten Inner-City-Vierteln. Man kann auch Vergleiche mit den Favelas brasilianischer Metropolen ziehen, wo das Elend der Armut und des Unwissens noch dadurch vergrößert wird, dass kriminelle Banden sich bilden und die Bewohner der Slums ebenso wie die Umgebung terrorisieren.

Derlei Strukturen des organisierten Verbrechens, verbunden mit Korruption, gibt es (weniger extrem) auch in einigen bulgarischen Roma-Slums. In slowakischen Ghettos werden Roma durch Wucherer aus den eigenen Reihen ausgebeutet und in finanzieller Abhängigkeit gehalten, und kriminelle Jugendliche gibt es auch in tschechischen Siedlungen. Sie existiert also, die Roma-Kriminalität, und zwar weit über jene Trickbetrügereien und Taschendiebstähle hinaus, die man als Tourist erleben kann.

Das Problem muss aus der Mitte der Roma selbst angegangen werden

Aber sicher ist diese Kriminalität nicht ethnisch bedingt, sondern durch soziale Umstände - wie anderswo auch. Man darf nicht vergessen, dass viele der zehn bis zwölf Millionen Roma in der EU ja nicht in Ghettos leben, sondern unauffällig in normalen Wohnungen in Dörfern und Städten, viele gehen bürgerlichen Berufen nach. Außerdem werden ja nicht nur Weiße, sondern auch Roma Opfer krimineller Roma.

Das Problem ist nicht zu lösen, wenn es nicht auch aus der Mitte der Roma selber zu Initiativen gegen Kriminelle in ihren Reihen kommt. Roma müssen ihre Nöte und ihre Interessen artikulieren und erkennen, dass die Herrschaft der alten Männer in den Sippen, die Unterdrückung der Frauen, die Untätigkeit vieler Männer und die Unterwerfung unter atavistische spirituelle Mächte ihre Emanzipation als Individuen und als gesellschaftliche Gruppe verhindern. Dort liegt die eigentliche Dunkelzone, wo kein Verbot, kein Appell und keine Fördermittel hinreichen.

Nur wenn dort ein Aufbruch beginnt, wird sich die Lage der Roma ändern. Und nur wenn Roma selber Hand anlegen für den Aufbau einer gerechten Gesellschaft, haben kriminelle Kinderhändler in irgendwelchen Siedlungen keine Chance mehr.

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SZ vom 22.10.2013/sks
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