Rassismusdebatte:Streichen, bitte

Rassismusdebatte: Auch in Deutschland protestieren viele Menschen gegen Rassismus wie hier in Stuttgart.

Auch in Deutschland protestieren viele Menschen gegen Rassismus wie hier in Stuttgart.

(Foto: imago images/Arnulf Hettrich)

Im Grundgesetz steht zentral das Wort "Rasse". 1948/49 hat das niemand hinterfragt. Heute passt das nicht mehr: Das Wort ist rassistisch.

Kolumne von Heribert Prantl

Es gibt hymnische Verfassungen, geschrieben im Sturm der Begeisterung. Jedes Komma ist ein Versprechen, jeder Satz ist ein Triumph, jeder Artikel eine Verheißung. Man liest und hört beim Lesen noch die Pauken donnern und die Fanfaren jubeln. So eine Verfassung war die erste deutsche Verfassung, von den ersten deutschen Demokraten 1848 auf den Barrikaden erkämpft gegen die Truppen der Könige und der Fürsten. Aber diese Paulskirchenverfassung trat leider nie in Kraft. Sie wurde hinweggefegt von der Reaktion. Sie ist Geschichte, Erinnerung an vertane Chancen.

Das Grundgesetz aber ist Gegenwart. Und es muss dieser Gegenwart genügen. Das tut es ausgerechnet an einer wichtigen Stelle nicht - dort, wo von der Gleichheit aller Menschen vor dem Gesetz die Rede ist und davon, dass niemand (unter anderem) "wegen seiner Rasse" benachteiligt oder bevorzugt werden darf. Wegen seiner Rasse!

Grundordnung für eine Zwischenzeit

Das Grundgesetz entstand genau hundert Jahre nach der Paulskirchenverfassung und es gilt bis heute. Niemand hat dem Grundgesetz damals, 1948/49, seine Haltbarkeit zugetraut, es galt als Grundordnung für eine Zwischenzeit. Das Land lag in Trümmern, die Zukunft war ein bombentrichtergroßes Loch. Das Grundgesetz ist so karg wie die Zeit, in der es entstanden ist; da jubelt nichts. Und in dem Satz, mit dem es, kurz wie eine SMS, beginnt, steckt das Entsetzen über die Nazi-Barbarei: "Die Würde des Menschen ist unantastbar." Die Grundrechte, die nachfolgen, sind die Antwort auf diese Barbarei; sie sollen die Unantastbarkeit der Menschenwürde sichern und schützen.

Rassismusdebatte: Heribert Prantl ist Kolumnist und Autor der Süddeutschen Zeitung. Illustration: Bernd Schifferdecker.

Heribert Prantl ist Kolumnist und Autor der Süddeutschen Zeitung. Illustration: Bernd Schifferdecker.

Was aber ist, wenn die Antwort auf die Barbarei nicht nur eine Antwort ist, sondern auch ein Echo - wenn man also in der Antwort noch die Sprache derer hört, wegen deren Untaten diese Grundrechte formuliert worden sind? So ist es in dem Grundgesetz-Artikel 3. "Rasse" - das ist ein zentrales Wort aus dem Vokabular des Nationalsozialismus. Es ist das Wort, das die NS-Vernichtungspolitik bestimmt hat, es ist das Wort, das die Nationalsozialisten zur Grundlage und zum Ausgangspunkt ihrer verbrecherischen Politik gemacht haben.

Es gibt, das ist heute wissenschaftlich unumstritten, keine Menschenrassen. Aber ein Benachteiligungsverbot wegen der "Rasse" steht auch in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte von 1948 und in der Europäischen Menschrechtskonvention von 1950. Es ist ein zeitgebundenes, böses Wort; das Echo tönt bis in unsere Zeit: Noch in der EU-Grundrechtecharta von 2009 wird es verwendet, im Allgemeinen Gleichstellungsgesetz aus dem Jahr 2006 auch. Und selbst in neueren Kirchenliedern heißt es: "Singt dem Herrn alle Völker und Rassen". Nun ja. Kirchenlieder kann man ungesungen lassen. Das Grundgesetz unbeachtet lassen - das geht nicht.

Bei den Grundgesetzberatungen hat es keine Debatten über den Begriff Rasse gegeben; er wurde vom Parlamentarischen Rat 1948/49 unhinterfragt übernommen - obwohl es niemals mehr ein deutsches Parlament gab, in dem der Anteil an Widerstandskämpfern und Anti-Nazis so hoch war wie in diesem Parlamentarischen Rat. Der Begriff "Rasse" ist auch von ihnen, von den ehemaligen Widerstandskämpfern gegen Hitler und seinen Wahn, nicht problematisiert worden. Man wollte die auf Rasse gestützte Diskriminierung ächten, hatte aber noch keinen Sinn dafür, dass schon mit der Verwendung des Begriffs Rasse die Rassenideologie zementiert wird. Man hatte kein Bewusstsein dafür, dass also schon die Verwendung des Worts Rasse diskriminierend ist.

"Race does not exist, but it does kill people", hat die französische Soziologin Colette Guillaumin formuliert. Das ist der Stand der Wissenschaft. Das ist Realität: Es gibt keine Menschenrassen. Muss man also den Begriff Rasse aus dem Grundgesetz streichen? Muss man mit dem Wort Rasse so umgehen wie mit den judenfeindlichen Darstellungen auf den Domen des Mittelalters? Muss man sie herausschlagen aus dem Grundgesetz?

Muss man zumindest eine Tafel anbringen mit historischen Erläuterungen? Das hieße im Fall des Grundgesetzes, eine Fußnote zum Artikel 3 Absatz 3 ins Grundgesetz zu schreiben, etwa wie folgt: "Das Grundgesetz ist in antirassistischer Absicht verfasst. Der Begriff Rasse verweist auf das Problem des Rassismus - nicht auf die vermeintliche Existenz menschlicher Rassen." Oder sollte man das Wort Rasse aus Gründen der Klarheit ersetzen durch rassismusfreie Formulierungen? Oder einfach das Wort Rasse im Grundgesetz künftig in Anführungszeichen setzen - um einerseits den historischen Bezug zur menschenverachtenden NS-Ideologie zu behalten, sich aber zugleich von dem Wort zu distanzieren?

Die bewusstseinsbildende Kraft von Sprache

Die Anti-Rassismus-Richtlinie der EU aus dem Jahr 2000 verwendet zwar das R-Wort, versucht es aber zugleich wieder einzufangen. Es heißt dort im Vorspruch: "Die EU weist Theorien zurück, mit denen versucht wird, die Existenz menschlicher Rassen zu belegen. Die Verwendung des Begriffs 'Rasse' in dieser Richtlinie impliziert nicht die Akzeptanz solcher Theorien." Im Fall des Grundgesetzes ließe sich ähnlich argumentieren: Das ganze Grundgesetz ist ein Dokument der grundsätzlichen Abkehr vom Nationalsozialismus. Es meint daher das Wort Rasse nicht so, wie es verstanden werden könnte.

Befriedigend ist das nicht. Ein solches Argumentieren verkennt die bewusstseinsbildende Kraft von Sprache. Die Grundgesetz-Formulierung trägt also die Gefahr in sich, Vorurteile fortzuschreiben. Das muss man vermeiden.

Das Grundgesetz ist kein Relikt der Vergangenheit. Es ist zwar ein Mahnmal und ein Denkmal seiner Zeit, der Jahre 1948/49. Aber es ist zugleich und vor allem ein Wegweiser in die Zukunft. Ein Wegweiser muss klar sein, unmissverständlich, er verträgt keine Fußnoten, er verträgt keine umständlichen Erklärungen und Rechtfertigungen. Das heißt: Das Wort "Rasse" muss aus dem Grundgesetz gestrichen werden. Bisherige Versuche, das zu tun, sind leider im Sand verlaufen.

Das Grundgesetz ist schon viele Male aus schlechteren Gründen geändert worden. "Niemand darf aus rassistischen Beweggründen benachteiligt werden." So könnte die neue Formulierung lauten.

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