Jeden Morgen wachen in Deutschland an die 60 000 Menschen in psychiatrischen Kliniken auf, die jüngsten von ihnen sind noch Kinder. Der Tag beginnt oft damit, dass sie Medikamente bekommen, und er geht dann so weiter, wie die Therapeutinnen und Therapeuten es bestimmen. Wann das alles endet, das liegt ebenfalls weitgehend in der Hand der Therapeuten. Es herrschen oft Güte und Hilfsbereitschaft. Aber immer auch Macht und Abhängigkeit. Das heißt: Niemals darf ein Rechtsstaat die Patientinnen und Patienten in dieser Lage vollkommen alleine lassen.
Es braucht gar nicht die aktuellen, schauderhaften Vorwürfe gegen den bekannten Kinder- und Jugendpsychiater Michael Winterhoff, um zu erkennen: Wo es Macht gibt, gibt es Machtmissbrauch. Die Abgeschiedenheit hinter den Mauern psychiatrischer Kliniken schafft Raum auch für Übles. Es braucht gar nicht die - bislang unbewiesenen - Vorwürfe der Misshandlung gegen den Star-Psychiater Winterhoff, es genügen schon die vielen bewiesenen Fälle aus der Vergangenheit, um zu erkennen: Es wird Tätern viel zu leicht gemacht. Auch durch die Politik.
Es gibt heute schon Besuchskommissionen der Ärztekammern, die sich hin und wieder in Psychiatrien umsehen. Aber, bitte, warum nur hin und wieder? Als im niedersächsischen Holzminden im Jahr 1998 ein paar dieser Kontrolleure über dem Flur einer psychiatrischen Einrichtung für Kinder und Jugendliche gingen, blieben sie stutzend vor einem Gerät stehen: einem Uroflow. Das ist ein Gerät, das Urologen zur Harnstrahlmessung nutzen. Was hat das in einer Kinderpsychiatrie zu suchen, fragten die Besucher. Erst dieser Zufallsfund ließ sie nachforschen.
Man sollte dies in das Heilberufe-Kammergesetz jedes einzelnen Bundeslandes hineinschreiben: Eine solche Besuchskommission muss in jeder psychiatrischen Einrichtung der Republik mindestens viermal im Jahr unangekündigt vorbeikommen. Sie muss sich überall ein Bild machen und auch Akten einsehen dürfen. Selbst in den Gefängnissen gibt es das längst. Im niedersächsischen Holzminden lautete das Ergebnis der Psychiatrie-Untersuchung damals: Der Klinikchef sei ein Pädophiler, der seine ärztliche Tätigkeit jahrelang ausgenutzt habe, um eigene sexuelle Bedürfnisse zu befriedigen. Viel zu spät erst wurde er gestoppt.
Solche Kontrollen dürfen auch nicht länger der Eigenregie der Ärztekammern überlassen bleiben. Dort läuft es viel zu locker. Die Ärztekammer fragt freundlich im Kollegenkreis, ob jemand Zeit hätte, bei einer Besuchskommission mitzumachen, will aber auch niemanden zwingen. Allzu oft bleibt es dann bei recht freundlichen, recht seltenen Stippvisiten. In der Kinder- und Jugendpsychiatrie der Diakonie in Rotenburg kam 2018 heraus, dass der Chefarzt Kinder teils über Tage in eine Art Gummizelle gesperrt haben soll. Er wurde dann entlassen. In den drei Jahren, die seitdem vergangen sind, hat aber nur ein einziges Mal wieder eine Ärztekammer-Besuchskommission den Weg dorthin gefunden. Das ist unverantwortlich wenig.
Der pädophile Chefarzt hier, der Gummizellen-Psychiater da: Man muss davon ausgehen, dass es in den psychiatrischen Einrichtungen, in denen jede Nacht 60 000 Patienten schlafen, noch etliche mehr solcher schwarzen Schafe gibt, ohne dass sie jedoch entdeckt werden. Es ist die Verantwortung des Staates, in diesem sensiblen Bereich die Grundrechte effektiv zu schützen. Der erste Schritt wäre, die Augen aufzumachen.