Profil:Ramsan Kadyrow
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Der tschetschenische Gewaltherrscher scheint seine Truppen in der Ukraine nicht unter Kontrolle zu haben.
Von Sonja Zekri
Seit russische Truppen die Ukraine überfallen haben, sucht ein signifikanter Teil der Welt nach Abtrünnigen in der Umgebung von Präsident Wladimir Putin. In Tschetschenien suchen sie eher nicht. Dort regiert inzwischen auch schon fast 20 Jahre lang Ramsan Kadyrow, der die russische Kaukasus-Republik selbst für regionale Verhältnisse in einen Abgrund an Unterdrückung und Korruption verwandelt hat - oft im Namen des Islams. Kadyrow gilt als Drahtzieher von Morden an Menschenrechtlern, Journalisten und Oppositionspolitikern in Russland und anderen Ländern, er lässt Schwule erpressen und foltern, kurz, sein Name ist zum Synonym eines entfesselten Gewaltherrschers geworden, über dessen mentale Gesundheit geteilte Meinungen herrschen, nicht jedoch über seine Nähe zu Putin.
Insofern war es eine schlechte, aber keine ganz unerwartete Nachricht, als aus Tschetschenien sehr rasch nach dem russischen Einmarsch in die Ukraine Mobilisierungsvideos kamen: Hundertschaften schwarz gekleideter Männer, die sich in Grosny versammelten, bereit, den russischen Truppen beizuspringen. Bonuszahlungen von mehreren Tausend Dollar für diejenigen, die sich zum Kampf melden, schließlich: ein Video, das Kadyrow angeblich in einem Bunker in der Ukraine zeigt, wo er Drohungen gegen die Hauptstadt Kiew ausstößt, andere Aufnahmen seiner Kämpfer, die angeblich Frauen und Kinder aus einem Keller in der belagerten Küstenstadt Mariupol retten, was wie ein Re-Enactment der russischen Propaganda wirkte - Ukrainerinnen müssen einem faschistischen Regime entrissen werden und flüchten sich ausgerechnet in die Arme der Kadyrow-Truppen.
Nun aber steht ein ungeheuerlicher Verdacht im Raum. Kadyrows Männer, so vermutet der britische Guardian, mögen zu Beginn des Krieges verlustreich gekämpft haben, zumal im Kampf um den Flughafen Hostomel bei Kiew. Inzwischen aber habe der Enthusiasmus deutlich abgenommen, trotz eines versprochenen Soldes von 1000 Dollar im Monat, und die Kämpfer seien mehr mit ihren Social-Media-Accounts beschäftigt als mit der Befreiung der Ukraine vom "zugedröhnten Verbrecherregime" der Selenskij-Regierung, wie die Kreml-Propaganda die ukrainische Regierung bezeichnet. Denn während russische Soldaten keine Bilder schicken dürfen aus einem Krieg, der ja nur eine "Spezialoperation" sein soll, während Russland aus eben diesem Grund im Informationskrieg womöglich noch schlechter wegkommt als militärisch, sind die tschetschenischen Kämpfer eher mitteilsam. Die Daten ihrer Mobiltelefone aber zeigten, dass die meisten sich gar nicht mehr im Gefecht befinden, sondern 20 Kilometer hinter der Front. Nicht einmal in tschetschenischen Kampfsport-Klubs - Tschetschenen sind berühmte Ringer - ließen sich noch Freiwillige finden.
Für Kadyrow, dessen Macht weit mehr als jene Putins auf demonstrativer Grausamkeit beruht, ist das heikel. Die Opferbereitschaft seiner Männer ist Teil seines Rufes, allein die Erwähnung tschetschenischer Truppen entfaltet beachtliche Abschreckungswirkung. Dass einige der älteren Kämpfer über Erfahrungen aus dem Häuserkampf um Grosny verfügen, machte ihren Einsatz in der Ukraine besonders furchterregend.
Aber was, wenn die Tschetschenen sich nicht mehr opfern wollen? Zumindest diese nicht? Mehr noch: Was, wenn die Verluste so hoch sind, dass Kadyrow seine Truppen zurückziehen muss, um die Basis seiner Herrschaft zu Hause nicht zu schwächen? Russland mag über unbegrenzte personelle Ressourcen - lies: Menschen - verfügen. Eine Kaukasus-Provinz mit 1,5 Millionen Einwohnern tut das nicht. Und noch eines mag eine Rolle spielen. Auch die Ukrainer sollen Tschetschenen in ihren Reihen haben und zwar jene, die Kadyrows erbitterte Gegner sind. Der Kampf von Tschetschenen gegen Tschetschenen auf ukrainischem Boden wäre eine der unheimlichsten Begegnungen dieses Krieges.