Profil:Hatice Cengiz

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(Foto: Andreas Rentz/Getty Images)

Von Moritz Baumstieger

Am 2. Oktober 2018 stand Hatice Cengiz vor dem Konsulat Saudi-Arabiens in Istanbul. Stundenlang. Ihr Verlobter, der Publizist Jamal Khashoggi, hatte die Vertretung seines Heimatlands um 13:14 Uhr betreten. Khashoggi wollte nur ein Dokument abholen, das für seine Eheschließung mit Cengiz fehlte. Gegen 16 Uhr erkundigte diese sich, wie lange das Konsulat geöffnet habe. Sie erfuhr, dass angeblich bereits alle das Gebäude verlassen hätten. Cengiz wartete dennoch weiter. Erst kurz nach Mitternacht ging sie nach Hause.

Nach den Erkenntnissen türkischer Ermittler und westlicher Geheimdienste wurde Khashoggi kurz nach seiner Ankunft ermordet. Heute, zwei Jahre später, wartet Cengiz immer noch - auf Gerechtigkeit.

Dieses Wochenende versucht der Mann, den Cengiz für den Mord an ihrem Verlobten verantwortlich macht und den sie im Oktober vor einem US-Gericht verklagt hat, sein Comeback auf der Weltbühne. Eine Zeit lang hatten Spitzenpolitiker Mohammed bin Salman nach der Khashoggi-Affäre gemieden, wollten nicht mit dem saudischen Kronprinzen in Verbindung gebracht werden, der sich als Reformer inszeniert - und Kritiker mit Knochensägen zerstückeln lässt.

Mit dem G-20-Gipfel sollte nun jedoch nach Wunsch des Königshofes die Rehabilitation des Mannes abgeschlossen werden, der anstelle seines greisen Vaters die Politik in Saudi-Arabien bestimmt: Fotos und Händeschütteln mit dem Gastgeber kann kein Teilnehmer ablehnen, ob er oder sie nun Macron oder Merkel heißt.

Hatice Cengiz will diese schleichende Normalisierung im Umgang mit bin Salman verhindern, kämpft gegen das Vergessen. Gäbe es einen für sie erreichbaren Tagungsort, stünde sie zweifelsohne davor, wenn sich die 20 größten Industrienationen nun treffen, erzählte sie der SZ im frühen Herbst bei einem Treffen. Die erwünschten Bilder im Kreis der Wichtigsten der Welt wird der Kronprinz zwar nicht bekommen, wegen der Pandemie findet der Gipfel nur virtuell statt. Doch Cengiz ruft dazu auf, dass die Staatschefs den Gastgeber zumindest im Videochat mit peinlichen Wahrheiten konfrontieren und unangenehme Fragen stellen. "Die internationale Gemeinschaft kann nicht einfach so tun, als sei nichts geschehen", sagt sie.

Um diese Botschaft loszuwerden, war die heute 38-Jährige zuletzt viel unterwegs. Sie redete bei der UN-Generalversammlung, im US-Kongress, im Europaparlament und vor wenigen Tagen vor britischen Abgeordneten. Zudem drehte sie mit dem Oscar-Gewinner Bryan Fogel einen Dokumentarfilm und gab unzählige Interviews. Cengiz fällt das nicht leicht, sie spricht leise und stockend und nicht jedes englische Wort richtig aus, lispelt leicht. Sie habe nie eine öffentliche Person sein wollen, sagt sie. "Aber wenn ich nicht für Jamal spreche, tut es ja keiner."

Den Kolumnisten hatte sie im Mai 2018 nach ihrem Uniabschluss auf einer Konferenz kennengelernt. Cengiz bat Khashoggi um ein Interview, bald sprachen die beiden von Heirat. Khashoggi kaufte eine Wohnung in Istanbul, bis zur Trauung sollte Cengiz weiter bei den Eltern wohnen. "Ich komme aus einer konservativen Familie", sagt sie. Sie freute sich auf das Leben mit dem damals schon fast 60-Jährigen - ihre einzige Sorge sei es gewesen, dass nicht all ihre Bücher in die neue Wohnung passen würden.

Nach dem Mord an dem Mann, der nicht der ihre werden konnte, habe sie zu vergessen versucht, erzählt Cengiz. 2019 zog sie nach London, um den in Istanbul lauernden Erinnerungen zu entgehen. Doch das Weglaufen habe nicht funktioniert. Heute arbeitet sie an einer Doktorarbeit, an ihrem Englisch und auch daran, dass die vielen Akteure der Zivilgesellschaft nicht vergessen werden, die Mohammed bin Salman willkürlich verhaften ließ. Damit führe sie, so ist sich Cengiz sicher, "ein Leben für Jamal, aber ohne Jamal".

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