Eines muss man Europa lassen: Es verzeichnet die Beseitigung des Rechtsstaates in EU-Mitgliedsländern wie Polen oder Ungarn gewissenhaft. Am 22. Juni etwa urteilte die Venedig-Kommission des Europarates, das weltweit führende Expertenorgan in Verfassungs- und Rechtsfragen, einmal mehr vernichtend über die, verharmlosend "Rechtsreform" genannte, systematische Beseitigung der Unabhängigkeit polnischer Richter und anderer Teile der Justiz. Und ein Bericht der EU-Kommission vom September dokumentiert mehr als 30 - großteils die Verfassung oder EU-Recht brechende - Gesetze, durch die Polens Regierung seit Ende 2015 den Rechtsstaat abschafft. Allein: Es folgt nichts daraus.
Das verwundert nicht. Die mit polnischen Stimmen ins Amt gekommene EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen bleibt angesichts der massiven Angriffe auf den Rechtsstaat in Ungarn oder Polen so untätig wie ihr Vorgänger Jean-Claude Juncker. Mitte September sprach die Kommissionspräsidentin in ihrer Rede zur Lage der EU von Corona bis zum Klimawandel zwar zu jedem erdenklichen Thema, erwähnte aber weder Ungarn noch Polen namentlich. Gewiss, es gibt Lippenbekenntnisse zum Rechtsstaat, doch wirksame Maßnahmen unterbleiben. Den Sündenfall in Sachen Polen begingen die Kommission und die in Brüssel dominierenden Regierungen Deutschlands und Frankreichs schon 2016, als sie nichts Greifbares gegen die Demontage des polnischen Verfassungsgerichts unternahmen.
EU:Verstöße gegen Rechtsstaatlichkeit sollen künftig bestraft werden können
Das hat eine Mehrheit der EU-Staaten beschlossen. Polen und Ungarn wehren sich gegen den Beschluss und drohen mit einer Blockade des Gemeinschaftshaushalts.
Die lange Liste der Versäumnisse endet beim Fall des Obersten Gerichts. Gegen eine Außerordentliche Kontrollkammer, die jedes Urteil der vergangenen 20 Jahre rückwirkend aufheben kann, wurde nichts Wirksames unternommen. Dabei erinnerte diese Kammer Experten der Venedig-Kommission schon Ende 2017 an die Unrechtsjustiz der Sowjetzeit. Eine ebenso skandalöse, aus PiS-Parteigängern gebildete Disziplinarkammer, die jeden Richter feuern oder disziplinieren kann, ist kein Gericht im europäischen Sinn und hätte gemäß dreier Urteile in Polen und einem Urteil des Gerichtshofes der EU jede Tätigkeit einstellen müssen.
Doch Warschau denkt gar nicht daran und beginnt nun, wie im Fall der Krakauer Richterin Beata Morawiec, kritische Richter zu schikanieren. Nicht nur das: Die Disziplinarkammer hat in einer Entscheidung vom 23. September kundgetan, dass selbst Urteile des EuGH, des obersten Rechtsprechungsorgans der EU, für Polen nicht verbindlich seien. Die Kommission hätte schon vor Monaten zum wohl einzigen Mittel greifen müssen, das Warschau zum Einlenken bringen könnte: zu hohen Strafzahlungen. Die kann und würde der EuGH wohl verhängen.
Einen Präzedenzfall bildet Białowieża: Polen fällte in dem unter EU-Schutz stehenden Urwald rücksichtslos Bäume - und wurde mit einem vom EuGH angedrohten Bußgeld von 100 000 Euro täglich zur Räson gebracht. Im Fall der Disziplinarkammer und anderer Initiativen, die EU-Recht grundsätzlich missachten, wären empfindliche tägliche Bußgelder in Millionenhöhe angebracht. Tätig werden müsste dafür aber die EU-Kommission. Doch wie in den Jahren zuvor gilt in Brüssel, Berlin oder Paris der realpolitische Grundsatz, dass die Wichtigkeit des Rechtsstaats in allen EU-Staaten zwar für Feiertagsreden gut ist, effektive Schritte aber ausbleiben.