Süddeutsche Zeitung

Rechtsstaatlichkeit:Europäische Krise

Europa, das ist halt Brüssel, denkt man in den Hauptstädten. Dabei wäre es hilfreich, wenn auch EU-Mitgliedsländer gegen Polen klagten. Rechtsstaatlichkeit ist keine nationale Angelegenheit.

Von Wolfgang Janisch, Karlsruhe

Der Kampf um die Erhaltung der Rechtsstaatlichkeit in Polen ist in eine gefährliche Phase eingetreten. Die EU-Kommission, allzu lange zögerlich, verschärft den Ton und droht mit einer Blockade der Zahlungen aus dem Wiederaufbaufonds, sollte die polnische Regierung an ihrer für rechtswidrig erklärten Disziplinarkammer festhalten, mit der sie Richter auf Linie bringen will. Der Europäische Gerichtshof (EuGH) hat ein erstes Zwangsgeld verhängt, eine Million Euro täglich. Derweil sucht das Verfassungsgericht in Warschau, längst kein unabhängiges Gericht mehr, die Konfrontation, indem es dem europäischen Recht rundweg den Vorrang vor der polnischen Verfassung abspricht. Diplomatie, Urteile, Sanktionen, vorerst scheint nichts zu fruchten, um die polnische Krise zu überwinden.

Aber ist es überhaupt eine polnische Krise? Einerseits natürlich ja. Die radikalkonservativen Ideologen um Jarosław Kaczyński haben die Abwicklung einer unabhängigen Justiz zum Kernprojekt ihrer "Reformen" gemacht. Ein polnisches Problem ist es zudem deshalb, weil Brüssel allein es nicht wird lösen können. Dazu braucht es die Kraft der polnischen Zivilgesellschaft und den Mut jener Richterinnen und Richter, die gegen den wachsenden Druck der eigenen Regierung ihre Unabhängigkeit verteidigen - und damit ihre Karriere riskieren.

Die Zerstörung der Rechtsstaatlichkeit in einem - noch dazu großen - EU-Mitgliedstaat ist aber vor allem eine europäische Krise von gravierendem Ausmaß. Europa muss mit allen Kräften gegen diesen Zerfall anarbeiten. Das tut die EU bereits? Weil die Kommission Vertragsverletzungsverfahren anstrengt, deren Präsidentin mit Geldentzug droht und der EuGH Urteile fällt? Europa handelt, könnte man glauben. Aber wer ist Europa eigentlich? Brüssel, Straßburg, Luxemburg und sonst niemand?

An diesem Dienstag verhandelt der EuGH über eine Klage Tschechiens gegen Polen wegen des Abbaus von Braunkohle im grenznahen Bergwerk Turów. Es geht um Gefahren für Umwelt und Gesundheit. Gut, dass sich der Nachbar gegen den Kohleabbau wehrt. Aber gegen den Rechtsstaatsabbau klagt kein EU-Staat, obwohl er nicht weniger toxisch ist. Im aktuellen Verfahren um den neuen Rechtsstaatsmechanismus treten zwar mehrere Länder an der Seite der EU auf. Aber eigene Staatenklagen - wie sie nach den Verträgen möglich wären - mag niemand erheben. Europa, das ist halt Brüssel, denkt man in den Hauptstädten.

Gewiss, es ist diplomatisch heikel oder, wie zwischen Polen und Deutschland, historisch kompliziert, einen Nachbarn vor Gericht zu zerren. Man handelt sich den Vorwurf ein, man mische sich in innere Angelegenheiten ein. Aber die Rechtsstaatlichkeit in Polen ist keine innere Angelegenheit. Ob die EU eine Gemeinschaft von Rechtsstaaten ist oder nicht, das betrifft alle 27 Mitglieder.

Ein übergreifendes Rechtssystem ist eine europäische Funktionsbedingung. Man kann dies derzeit am Beispiel des EU-Haftbefehls beobachten, eine europäische Errungenschaft für die grenzüberschreitende Strafverfolgung. Schon 2018 hatte der irische Oberste Gerichtshof beim EuGH angefragt, ob man Haftbefehle aus Polen angesichts der bedrohten Justizstrukturen überhaupt noch akzeptieren dürfe. Unter Bauchschmerzen versuchte der EuGH, den EU-Haftbefehl über die Krise zu retten. Nun aber sperren sich weitere Gerichte gegen polnische Haftbefehle, in den Niederlanden, in Norwegen.

Beim Rechtsstaat geht es um ein europäisches Gemeinschaftsgut. Sein Abbau ist Sand im Getriebe einer Union, die sich ohnehin immer schwerer tut, die Menschen von ihren Vorzügen zu überzeugen. Wirtschaft, Rechtsschutz, Strafverfolgung - von der Unabhängigkeit der Gerichte hängt vieles ab. Eigentlich fast alles.

Es gibt aber noch einen Grund, warum Europa, das ganze Europa, die Entwicklung in Polen als eigene Angelegenheit betrachten sollte. Die Regierungspartei PiS hat sich auf den Weg in die illiberale Demokratie begeben. Also in ein vulgärdemokratisches Modell, das den Mehrheitswillen über elementare Rechtsstaatsgarantien stellt. Größter Störfaktor in einem solchen System: eine unabhängige Justiz.

Wer sich also über rechtspopulistische Bestrebungen Sorgen macht, der sollte sich eines klarmachen: Die wichtigste, aber eben nicht sturmfeste Bastion gegen solche Entwicklungen ist eine unabhängige Justiz, die faire Verfahren garantiert, Rechtsschutz gewährt, Minderheitenrechte achtet - und zwar nicht nur in den oberen Instanzen, sondern bis in all ihre Verzweigungen. Angriffe auf die Justiz lassen sich beileibe nicht nur in Polen und Ungarn beobachten. Auch der gestrauchelte Star der österreichischen Konservativen, Sebastian Kurz, hatte die Justiz ins Visier genommen, bevor sie ihn zum Rücktritt zwang.

Das Schicksal der polnischen Justiz geht alle EU-Staaten an. Das Beispiel Polen darf nicht Schule machen.

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