Süddeutsche Zeitung

Europäische Union:Ein Gegner und ein Partner

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Trotz aller Konflikte um den Abbau des Rechtsstaats in Polen: Die Zusammenarbeit mit der dortigen Regierung in der Auseinandersetzung mit Lukaschenko muss sein.

Kommentar von Josef Kelnberger

Mauer oder keine Mauer? Das ist sehr zugespitzt die Frage, wenn die EU um eine europäische Antwort auf die schrecklichen Bilder von gestrandeten Menschen an ihren Grenzen zu Belarus ringt. Die 27 Staats- und Regierungschefs haben bei ihrem jüngsten Treffen diskutiert, ob der Bau von "physischer Grenzinfrastruktur" aus EU-Mitteln finanziert werden kann. Solche Infrastruktur, ob Mauer oder Zaun oder Wall, soll illegale Grenzübertritte verhindern und aller Welt signalisieren: Diese Grenzen sind dicht. Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen versuchte mit der Bemerkung, für Mauern, Zäune, Stacheldraht könne es kein europäisches Geld geben, die Debatte zu beenden. Aber das ist nicht gelungen.

Vermutlich werden auch die 27 Außenminister darüber streiten, wenn sie an diesem Montag in Brüssel neue Sanktionen gegen den belarussischen Autokraten Alexander Lukaschenko beschließen. Die "Mauer" ist ein Symbolthema, zweifellos, denn Polen, Litauen und Lettland werden ihre Grenzen auch ohne neues Geld der EU sichern. Aber Politik besteht auch aus Symbolen. Und die EU braucht eine starke Antwort auf Lukaschenko. Und auf Wladimir Putin.

Idealerweise würden die neuen Sanktionen Mauern und Zäune überflüssig machen. Die EU will "Schleuser" bestrafen, also alle, die Geld damit verdienen, dass Migranten nach Minsk gelockt, abkassiert und dann mit dem falschen Versprechen an die Grenze geschickt werden, der Weg Richtung EU sei frei. Aber sehr wahrscheinlich ist es nicht, dass der Strom von Reisenden nach Minsk bald versiegt und dass Lukaschenko klein beigibt. Seit 2020 geht die EU gegen ihn und sein Regime vor. 166 Personen und 15 Unternehmen sind belegt mit Kontosperren, Reisebeschränkungen, Handelsverboten. Sanktionen richten sich gegen die Kali-, Erdöl-, Zigarettenindustrie. Ob die nunmehr fünfte Sanktionsrunde ans Ziel führt? Wahrscheinlicher ist, dass Lukaschenko erst einmal noch wütender agiert.

Womöglich soll Europa getestet werden - und der Tester sitzt in Moskau

In Brüssel glauben ohnehin viele, dass Europa systematisch "getestet" werden soll und dass hinter diesem Test vor allem Wladimir Putin steckt. Der wolle ausnutzen, dass die USA sich von Europa abwenden, und die EU entzweien. In jedem Fall spielt Lukaschenkos Taktieren mit menschlicher Not dem Mann im Kreml in die Hände. Gerade im Umgang mit Polen trifft die Attacke einen wunden Punkt der EU: die Konflikte mit den Osteuropäern. Die EU und ihre Institutionen müssen deshalb nun geschlossen für Warschau sein, wenn es um Belarus geht - und geschlossen gegen Warschau, wenn es um den Abbau der Gewaltenteilung in Polen geht.

Erste Bruchstellen sind bereits sichtbar. Ratspräsident Charles Michel hat die Position von der Leyens zu Mauern und Zäunen öffentlich infrage gestellt. Dahinter mag auch persönliche Rivalität stecken, aber beide handeln aus guten Gründen. Michel reagiert auf die Wünsche von mindestens einem Dutzend Mitgliedstaaten. Von der Leyen wiederum steht im Wort beim Europaparlament, kein Haushaltsgeld für Mauern und Zäune zu verwenden. Zudem ist sie vom Parlament bereits verklagt worden, weil sie in Fragen der Rechtsstaatlichkeit nicht entschieden gegen die polnische Regierung vorgehe. Am Ende darf sich die Union weder von einem Autokraten vorführen lassen noch gemeinsame Werte über Bord werfen. Es ist ein Stresstest für die EU und ihre Institutionen. Es wird nicht der letzte sein.

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