„In aller Ruhe“ mit Carolin Emcke:„Störrischer Besitzanspruch“ – Julia Wissert über inszenierte Wirklichkeit und Repräsentanz auf der Bühne

Lesezeit: 3 Min.

Als Leiterin eines Stadttheaters erlebt sie einen „störrischen Besitzanspruch“ der Menschen auf „ihr“ Theater, erzählt Julia Wissert im Gespräch mit Carolin Emcke. (Foto: Birgit Hupfeld/Bearbeitung: SZ)

Wie kann Theater Realität abbilden – und verändern? Darüber spricht Carolin Emcke in dieser Folge des Podcasts mit der Intendantin am Schauspiel Dortmund.

Podcast von Carolin Emcke; Text von Ann-Marlen Hoolt

Geht es um die Frage, wie das moderne Theater aussehen kann, wird häufig zwischen zwei Arten der Inszenierung unterschieden: alte, klassische Bühnenstücke und performatives Theater, das Diversitätsfragen verhandelt. Doch müssen diese beiden Bereiche wirklich voneinander getrennt betrachtet werden? Um diese Frage zu beantworten, spricht Carolin Emcke in dieser Folge von „In aller Ruhe“ mit der Intendantin des Schauspiels Dortmund, Julia Wissert. Im Podcast erzählt Wissert, inwiefern für sie identitätspolitische Fragen eine Rolle in der Gestaltung von Bühnenstücken spielen, und warum die Diskussion über Diversität und Repräsentanz ein Gespräch über Kunst erschwert.

Wissert, geboren 1984, ist als älteste von vier Töchtern in der Nähe von Freiburg im Breisgau aufgewachsen. Nach einem Studium in Media Arts und Drama in London und einem Regiestudium am Mozarteum in Salzburg arbeitete sie als freie Regisseurin, unter anderem am Maxim-Gorki-Theater in Berlin. Seit der Spielzeit 2020/21 ist sie Intendantin des Schauspiel-Bereichs am Theater Dortmund – als eine der jüngsten Intendantinnen Deutschlands. In verschiedenen Texten hat sich Wissert mit Fragen von strukturellem Rassismus auseinandergesetzt und 2017 gemeinsam mit der Anwältin Sonja Laaser ein Musterverfahren entwickelt, mit dem sich Kulturinstitutionen verpflichten, diskriminierendes Verhalten gegenüber Künstlerinnen und Künstlern schnell aufzuklären.

Eine Jugend, in der alle Lebensentwürfe akzeptiert wurden

Im Podcast erzählt Wissert von ihrer Jugend in einem Tausend-Seelen-Dorf. Eine prägende Frage sei für Wissert damals die nach Zugehörigkeit gewesen. „Ich kann mich nicht erinnern, in meiner Kindheit aktiv das Gefühl gehabt zu haben: Wow, diese Person sieht aus wie ich.“ Vorbilder habe sie sich in dieser Zeit unterbewusst in schwarzen Sängerinnen wie Tina Turner oder Whitney Houston gesucht. Erst durch eine neue Englischlehrerin am Gymnasium bekam sie dann einen Zugang zu Gedichten schwarzer Autorinnen und Autoren – und verstand, dass Sprache und Texte auch ein Beruf sein können.

Rückblickend ist Wissert dankbar für das Umfeld, in dem sie groß geworden ist. Der Onkel, der Dragqueen war, sei genauso akzeptiert worden wie jedes andere Familienmitglied auch. Das habe sie sehr geprägt: „Ich bin in einer wunderschönen, fantastischen Normalität groß geworden. Und deswegen vergesse ich manchmal, dass es eben doch Menschen gibt, die überrascht sind über diese Wirklichkeit.“

Lange hat das Theater eine Wahrnehmung bestätigt, die nicht hinterfragt wurde

Diese Jugenderfahrungen beeinflussen auch Wisserts Arbeit am Stadttheater Dortmund, erzählt sie im Gespräch mit Carolin Emcke. Am Theater reize sie die Möglichkeit, Wirklichkeit auf der Bühne zu konstruieren, auf Missstände aufmerksam zu machen und gleichzeitig zu unterhalten. Als Intendantin versucht Wissert Räume, Perspektiven und Ästhetiken zu ermöglichen, die am Stadttheater in Dortmund bisher nicht stattgefunden hätten, sagt sie im Podcast. „Die Wirklichkeit, die erzählt wurde, und die Geschichten, die bisher erzählt wurden, haben eine Wahrnehmung bestätigt, die wir nie hinterfragt haben.“

Wissert sieht ihre Aufgabe als Leiterin der Schauspiel-Sparte eines städtischen Theaters darin, ein vielfältiges Programm anzubieten. Es gehe darum, den Bürgerinnen und Bürgern eine Einladung auszusprechen, „und diese Einladung erstreckt sich auch in die Räume, die experimenteller sind“. Das bedeute aber keinesfalls, dass diejenigen ausgeladen sind, die mit dem Experimentellen nichts anfangen können. Es gebe in Teilen der Bevölkerung eine Art „störrischen Besitzanspruch“, eine Fantasie darüber, wer im Stadttheater sprechen sollte und worüber. Diese Vorstellungen aufzubrechen, sei keine einfache Arbeit. Trotzdem glaubt Wissert, dass es keinen besseren Ort für ihre Arbeit gebe als Dortmund: „Das ist ein Ort, der noch nicht damit fertig ist herauszufinden, was er sein möchte.“

Empfehlung von Julia Wissert

Eine der Empfehlungen von Julia Wissert ist die Serie „Atlanta“, erfunden von Schauspieler und Musiker Donald Glover, der auch die Hauptrolle des Earnest Marks (rechts) spielt. (Foto: Matthias Clamer/FX)

Zum Ende des Gesprächs hat Wissert gleich vier Kulturtipps parat. Zum einen empfiehlt sie die Inszenierungen am Schauspiel Dortmund, namentlich „Das Kapital: Das Musical“. Dann empfiehlt die Intendantin die US-amerikanische Dramedy-Serie „Atlanta“ (2016) sowie die Sketch-Comedy-Show „Random Acts of Flyness“ (2018). Beide Serien, sagt sie, treiben sie in der Frage um, wie Surrealismus auf der Bühne stattfinden kann. Zuletzt empfiehlt Wissert noch einen Text des simbabwischen Schriftstellers Dambudzo Marechera, der „eine Erschütterung“ für sie war, als sie ihn gelesen hat. „Black Skin What Mask“ ist Marecheras Antwort auf das in den 50er-Jahren veröffentlichte Buch „Black Skin White Mask“ des Philosophen Frantz Fanon.

Moderation, Redaktion: Carolin Emcke

Redaktionelle Betreuung: Ann-Marlen Hoolt, Johannes Korsche

Produktion: Imanuel Pedersen

Bildcredit Cover: Birgit Hupfeld/Bearbeitung SZ

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