Gern wurde im Deutschland des späten 19. Jahrhunderts der Zivilisationsgrad einer modernen Nation am Pro-Kopf-Verbrauch an Papier gemessen. Deutschland kam dabei gut weg. Seit dem späten 14. Jahrhundert hatten hier Papiermühlen zur gewerblich-industriellen Dynamik beigetragen. Das Papier war mit den Büchern und der Bildung im Bunde, aber auch mit Bürokratie und Verwaltung, mit dem Gesamtspektrum analoger Kommunikation vom Liebesbrief bis zu Formular und Aktie. Als hocheffizientes Speicher- und Zirkulationsmedium hatte es zur technisch-zivilisatorischen Modernität der Industriegesellschaft beigetragen. Wenn jetzt die Krankenkassen mitteilen, sie könnten die Impfpflicht auch wegen Papiermangels nicht umsetzen, zeigt das zum einen, dass das papierlose Büro auch bei fortgeschrittener Digitalisierung noch nicht volle Wirklichkeit ist. Zugleich erinnert der Aufschrei wegen des Krieges in der Ukraine an die alte Verbindung von Krieg und Papiermangel. Doch klagten deutsche Verlage schon im vergangenen Sommer über Probleme beim Papiereinkauf. Das Angebot wurde knapper, die Preise stiegen. Der in der Pandemie gestiegene Bedarf an Verpackungsmaterial trug auf Kosten der grafischen Papiere dazu bei. Leergefegt aber ist der Papiermarkt nicht. Am Papier muss die Impfpflicht also nicht scheitern.
Aktuelles Lexikon:Papier
Traditionellerweise vermittelt es Bildung und Verwaltungsakte oder dient dem Versand - nun soll es als Ausrede dienen.
Von Lothar Müller
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