Psychotherapie:Zurück in die Vorzeit

Videosprechstunden haben sich während der Pandemie als sehr hilfreich erwiesen. Nun werden sie wieder eingeschränkt. Nicht zu fassen.

Von Michaela Schwinn

Was, wenn man den Alkoholatem nicht riecht? Wenn man den nervös wippenden Fuß nicht sieht? Wenn ältere Patienten an der Technik scheitern? Die Vorbehalte gegen Videosprechstunden in der Psychotherapie waren groß, nachdem sie vor ein paar Jahren als Kassenleistung erlaubt wurden. Doch die Pandemie zeigte: Die Therapie aus der Ferne funktioniert, die Nachfrage ist immens. Es ist unverständlich, dass dieses Angebot nun, mit dem Ende der pandemischen Lage, wieder massiv eingeschränkt wird; nur noch 30 Prozent der Behandlungen dürfen per Video stattfinden.

Die Entscheidung ist nicht nur ein herber Rückschlag für die ohnehin lahmende Digitalisierung des deutschen Gesundheitswesens, in dem seit Jahren von E-Akten und E-Rezepten gesprochen, aber immer noch mit Faxgeräten und Papierakten gearbeitet wird. Die Limitierung der Videosprechstunden kommt auch zu einem unmöglichen Zeitpunkt: Viele psychisch Kranke leiden durch elementare Krisen wie die Pandemie und den Krieg besonders, die Wartelisten der Therapeuten laufen über, in psychiatrischen Kliniken werden Matratzen ausgelegt, weil kein Bett mehr frei ist. Dazu kommt die Omikron-Welle, die viele zum Daheimbleiben zwingt, weil sie infiziert sind oder sich schützen wollen.

Psychisch Kranke brauchen niedrigschwellige Hilfe, der Zugang müsse vereinfacht werden, heißt es seit Jahren. Und nun das. Abgewälzt wird die Regelung an die ohnehin überlasteten Therapeuten, die nun auswählen müssen: Wer darf zu Hause therapiert werden, wer muss zurück in die Praxis? Eine harte Entscheidung, schließlich sind viele Patienten auf die Videosprechstunden angewiesen: die Krebskranke, die zu schwach ist, um aufzustehen. Der Student im Auslandssemester. Die Rollstuhlfahrerin, die keine Praxis in der Nähe hat. Die Alleinerziehende, die nur in der Mittagspause Zeit hat. Diejenigen, die Hilfe am dringendsten benötigen, haben das Nachsehen. Mal wieder.

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