Neue Bundesregierung:Und wieder fällt der Osten hinten runter

Kanzlerkandidat Olaf Scholz (SPD) auf einem Wahlplakat für die Bundestagswahl an einer Straße in Potsdam, 21. September

Olaf Scholz auf einem Wahlplakat in Potsdam im Spätsommer 2021

(Foto: Martin Müller via www.imago-ima/imago images/Martin Müller)

Nicht zuletzt dank vieler Stimmen aus Ostdeutschland hat die SPD die Wahl gewonnen. Und wer ist die Stimme dieser Menschen im Kabinett von Olaf Scholz? Ein gefährliches Versäumnis.

Kommentar von Cerstin Gammelin, Berlin

Am vergangenen Wochenende haben deutsche Spitzenpolitiker die faschistischen Fackelträger im sächsischen Grimma scharf verurteilt - und sich danach wieder an ihr Tagwerk gemacht, wozu wegen der laufenden Regierungsbildung die Vergabe von Ministerämtern zählte. Und wie das Tagwerk des Fast-Kanzlers Olaf Scholz am Montag beweisen sollte - die Problemzonen des Ostens waren wie immer aus dem Kopf der Entscheider verschwunden.

Je zweimal Hamburg, Nordrhein-Westfalen und Hessen, je einmal Niedersachsen und Brandenburg, so ist die Regierungsmannschaft der SPD zusammengesetzt. Alle in den Fünfzigern, keine Jungen, keine Migranten, eine Frau aus Potsdam, der Stadt, die als westlichste des Ostens gilt ausweislich ihrer mondänen Villenviertel und zugezogenen Bevölkerung. Das ist für einen Wahlkämpfer, der mit einer Respekt-Kampagne geworben hat und seinen Wahlsieg auch den Millionen Stimmen und vielen Direktmandaten zwischen Rügen und Thüringer Wald zu verdanken hat, enttäuschend. Als Stimmengeber sind Ostdeutsche (wie auch Migranten und Junge) geeignet, als Mitregierende offenbar nicht.

Die Posten sind nach westdeutschem Proporz vergeben

Auch in einer Ampelkoalition, die Moderne und Aufbruch verspricht, werden nach eingeübtem westdeutschen Proporz die entscheidenden Posten verteilt. Man kennt sich, man will große Landesverbände bedenken - und kennt ja noch ein paar loyale Mitstreiter. Aus ostdeutscher Sicht ist das irritierend. Dieselben Politiker, die in Sonntagsreden dazu aufrufen, gegen den rechten Mob aufzustehen, wollen nicht verstehen, dass gerade diese Regionen explizit eingebunden werden müssen.

Ebenso irritierend ist es, dass das in Dresden, Schwerin oder Erfurt nicht laut eingefordert wird. Die Ostdeutschen scheinen sich daran gewöhnt zu haben: Führungsjob bedeutet westdeutsch. Für den Osten, sagen manche, sei im Koalitionsvertrag ja eine Erinnerungsstätte für die friedliche Revolution vermerkt. Da habe ja das Team um den früheren Brandenburger Ministerpräsidenten Matthias Platzeck eine Forderung durchbekommen. Wie demütig das klingt. Die friedlichen Revolutionäre von einst freuen sich über die Krumen, die vom Rand des Koalitionstellers in der Bundeshauptstadt fallen.

Ganz ähnlich bei Menschen mit Migrationshintergrund

Wer Olaf Scholz im Wahlkampf zugehört und sich das Wahlergebnis angeschaut hat, konnte nicht anders, als zu erwarten, dass die Ostdeutschen prominent im Kabinett vertreten sein würden - vor allem bei den Sozialdemokraten. "Scholz packt das an", hatte die SPD-Kampagne versprochen, das klang nach mindestens zwei sozialdemokratischen Ministerposten für die neuen Länder, Koalitionspartner extra.

Was ja ohnehin angesagt wäre. Bei gut achtzig Millionen Einwohnern, davon 16 Millionen zwischen Mecklenburg-Vorpommern und Sachsen, müsste knapp ein Fünftel der Regierungsmitglieder aus diesen Regionen kommen. Tatsächlich ist es bei der SPD ein Achtel. Und in der gesamten Ampel sind es zwei von siebzehn. Ähnlich sind die Verhältnisse bei Menschen mit Migrationshintergrund: Gut 26 Prozent haben ihn deutschlandweit, in der Ampel nur sechs Prozent - oder eine Person. Repräsentation als Schaufensterpolitik!

Bei der Ampel liegt sogar noch weniger im Schaufenster als zuvor - obwohl die Ostdeutschen Scholz zum Kanzler gemacht haben. In den Jahren, in denen die in Ostdeutschland sozialisierte Angela Merkel regierte, gab es zusätzlich je einen Minister oder eine Ministerin aus dem Osten im Kabinett. Auch wenn es Merkel nie hat raushängen lassen, sie dachte stets die Erfahrungen aus 35 Jahren in einer Diktatur mit. Künftig werden zwei ostsozialisierte Ministerinnen am Kabinettskatzentisch sitzen - und einen Kanzler, der den Osten mitdenkt, gibt es nicht mehr.

Ein Ostdeutscher, der die Probleme des Ostens sammelt? Gehört abgeschafft

Betrachtet man die vergangenen 30 Jahre seit der Wiedervereinigung, so fällt der Befund noch ernüchternder aus. Die Beteiligung der Menschen aus den neuen Ländern stagniert auf niedrigem Niveau. Daran ändert auch die Tatsache nichts, dass es ein paar Ostdeutsche in der zweiten Reihe geben soll, etwa den Erfurter Carsten Schneider als Ostbeauftragten, angesiedelt im Kanzleramt. Das ist zwar ranghöher als der bisherige Ostbeauftragte, aber das Problem ist: Dieses Amt gehört eigentlich abgeschafft. Statt einen Ostdeutschen zu beauftragen, die Probleme im Osten zu sammeln, sollte man die Menschen dort direkt in bundesdeutsche Entscheidungsprozesse einbeziehen. Es geht ja nicht darum, einer Region Posten zuzuschieben, egal ob Ost oder West, sondern bundesweit gleiche Lebensverhältnisse zu schaffen.

Man kann die Stimmen verstehen, die fordern, ist doch mal gut mit dem Ost-West-Gerede. Schön wär's, könnte man damit aufhören. Allerdings wäre es schlicht verantwortungslos - im gesamtdeutschen Sinne. Denn es ist ja das Fernhalten der Menschen, die in ihrem Lebenslauf die harten Umbrucherfahrungen haben, von wirklichen Führungspositionen, welches das Abgehängtsein des Ostens erst manifestiert. Leute, die nicht mitentscheiden dürfen, wenden sich ab. Regionen, die nicht mitgedacht werden, ebenso. So geht Spaltung.

Selbst die Grünen, die immerhin eine von fünf Positionen im Kabinett mit einer Ostdeutschen besetzt haben, dürften die Fehlstellen noch zu spüren bekommen. Der vorgezogene Kohleausstieg ist ihr Herzensthema. Nur, wie werden die Grünen in der Lausitz und im mitteldeutschen Raum aufgenommen werden, wenn sie mit einer fast komplett westdeutsch choreografierten Mannschaft auflaufen, um den umbrucherfahrenen Bewohnern den Umbruch zu erklären? Eben.

Mit der mangelnden Diversität im neuen Kabinett stellt sich die Ampel schon vor Amtsantritt eine Falle. Noch wäre Zeit, sie wieder abzubauen.

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