Viele von ihnen existieren offiziell gar nicht; sie haben keinen Personalausweis, keine Meldeadresse, keine Bankverbindung. Sie nächtigen auf Parkbänken, auf Euro-Paletten und Iso-Matten, im Schlafsack irgendwo unter der Brücke. Zusammengerechnet lebt eine mittlere deutsche Stadt auf der Straße - eine ganze Stadt! Es ist eine Stadt der Größe von Ratingen, Memmingen, Eberswalde, Halberstadt oder Homburg, Nettetal oder Bietigheim-Bissingen. "Penner" nennen manche sie abwertend, "Obdachlose" heißen sie amtlich. Was "Social distancing" ist, das wissen sie nicht erst seit Corona; sie leben am Rand der Gesellschaft. Obdachlosigkeit ist der Extremfall der Armut. In Berlin ist sie sichtbarer als in München. Aber es gibt sie auch dort. Die Gemeinschaft Sant'Egidio, ein katholischer Verein, hat die Berber an Weihnachten in die Kirche eingeladen - zu einem Festmahl zum Mitnehmen. Es kamen vierhundert Menschen.
Es ist kalt am Rand der Gesellschaft; im Winter erfrieren die Zehen und die Finger, manchmal erfriert der ganze Mensch. Corona hat das Leben für Obdachlose noch schwerer gemacht, als es vorher schon war. Obdachlose meiden die Notunterkünfte mit ihren Mehrbettzimmern noch mehr als sonst, halten die Enge und die Angst vor Corona nicht aus. Und in den Fußgängerzonen rentiert sich das Betteln nicht mehr.
Mitten im wohlhabenden Charlottenburg findet sich die Hölle
Ein Bundespräsident müsste nicht weit gehen, um zu sehen, wie in Deutschland die Hölle aussieht: Mitten im wohlhabenden Charlottenburg findet man sie, Nähe Kudamm, an der Bahnunterführung. Es ist eine eiskalte Hölle, mit Matratzenbergen auf dem Bürgersteig. Bürgersteig! Man friert schon, wenn man in diesem Zusammenhang das Wort hinschreibt. Und man mag sich nicht vorstellen, dass und wie dort Menschen leben können. Was tun? Was wird getan? Was kann getan werden? Wohlfahrtsorganisationen schlagen vor, leerstehende Hotels und Jugendherbergen für Obdachlose zu öffnen. Programme werden ausprobiert, die "Housing first" heißen - sie sind in den USA und einigen europäischen Ländern schon erprobt; sie bieten obdachlosen Menschen eine Wohnung ohne Auflage an und Betreuung durch Sozialarbeiter. Das heißt: Kein Alkoholentzug muss vorher durchgestanden, kein Arbeitsvertrag nachgewiesen werden.
Es gibt einen Kandidaten für das Amt des Bundespräsidenten, der dieses Elend gut kennt. Er heißt Gerhard Trabert, ist 65 Jahre alt, Arzt und Professor für Sozialmedizin und Sozialpsychiatrie in Mainz; die Linken haben ihn für das höchste Staatsamt nominiert. Er ist also bei der Bundesversammlung am 13. Februar Gegenkandidat für den amtierenden Bundespräsidenten Frank-Walter Steinmeier. Trabert hat in Mainz eine Arztpraxis, die ein umgebauter Lieferwagen ist; damit fährt er dorthin, wo Obdachlose hausen; er behandelt sie, egal ob sie versichert sind oder nicht; der Verein "Armut und Gesundheit" finanziert das. Als Kandidat hat Trabert gegen die große Mehrheit, die Steinmeier unterstützt, keine Chance. Aber es ist schön, sich zu überlegen, was wäre, wenn ... dieser Mann der 13. Bundespräsident wäre. Schon die Nominierung von Trabert rückt ein Nicht-Thema ins Licht. Schaut nicht weg, schaut hin!
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Es werden Erinnerungen wach an Gustav Heinemann, den dritten Bundespräsidenten, der immer wieder Gefängnisse besucht und dort die Einhaltung der Grundrechte angemahnt hat. Als "Staatsbürger hinter Gittern" redete er die Häftlinge an. In der Gefangenenzeitung der Anstalt "Meisenhof" in Castrop-Rauxel war er 1970 wie folgt liebevoll angekündigt worden: "Der Justav ist der Vater aller, oder?" Wie würde er heute die Obdachlosen anreden? Staatsbürger auf der Platte? Staatsbürger ohne Dach überm Kopf? Liebe Berber, liebe Mitmenschen draußen, liebe Sandler? Und wie sähen seine Mahnungen aus? Er würde aufs Grundgesetz verweisen: "Die Würde des Menschen ist unantastbar" - und dann sagen: Diese Würde braucht ein Dach und eine Tür, die man hinter sich zumachen kann. Sie braucht Wärme, Essen und ärztliche Grundversorgung.
Während ich dies schreibe und über die Chancen nachdenke, die die Kandidatur von Trabert mit sich bringt, schaut mir ein großer Kopf über die Schulter, ein ausdrucksstarkes zerfurchtes Antlitz mit einem mächtigen Bart. Es ist eine Skulptur aus dunklem, gebranntem Ton in meinem Büro. Manche Besucher meinen, Karl Marx zu erkennen. Es ist aber Jürgen. Jürgen war ein Obdachloser in Berlin, der Künstler Harald Birck hat ihn vor Jahren porträtiert. Birck ist ein Bildhauer, der in Zusammenarbeit mit der Berliner Stadtmission Porträtbüsten von obdachlosen Menschen gefertigt und dann in Ausstellungen präsentiert hat, auf Augenhöhe mit den Besuchern und auf Augenhöhe mit den Porträts von Berühmtheiten.
Ein Armenarzt, der in Schloss Bellevue residiert - die Idee hat etwas
Für Birck hat die gemeinsame Ausstellung von Berühmtheiten und von Leuten, die man allenfalls mit dem Vornamen kennt, einen tiefen Sinn: Jeder hat ein Gesicht; und das Gesicht der obdachlosen Menschen ist oft bewegender als das, das zu einem berühmten Namen gehört. Die Betrachter können rätseln, ob sie den Jürgen aus der Suppenküche oder einen Philosophen der Aufklärung vor sich haben. Beim Schreiben von Kolumnen ist es gut, sich daran zu erinnern, dass es Leute gibt, die sich die SZ oder FAZ nicht leisten können und die es eher mit alten Zeitungen zu tun haben - gegen die Kälte.
Jürgen hat in Berlin unter den Brücken gewohnt, er war Bergarbeiter in der DDR gewesen, Familie, zwei Töchter. Ein Verkehrsunfall hatte ihn aus dem Leben geworfen; seine Frau war dabei verbrannt. Er wurde "ein freier Vogel", hat immer versucht, "ordentlich" zu wohnen, es gelang ihm nicht mehr. Am Schluss war es so, dass Jürgen eine wirklich gute Unterkunft hatte mit einem vollen Kühlschrank, wie er stolz erzählte. Aber er hat nichts mehr gegessen. Er starb mit 58. In seiner letzten Wohnung hatte er sich gefühlt "wie der Indianer im Reservat".
Der Porträtkopf vom obdachlosen Jürgen ist eine Anklage dagegen, wie fahrlässig lässig mit dem Thema Obdachlosigkeit umgegangen wird. In der Weltliteratur muss man damit rechnen, dass sich im Bettlergewand ein heimkehrender Odysseus, ein Gott oder ein König auf Recherche verbirgt. So ist es in Friedrich Dürrenmatts "Ein Engel kommt nach Babylon". Da kontrolliert der König Nebukadnezar in Bettlerkleidern seinen Staat. Die Vorstellung, dass ein Armenarzt im Schloss Bellevue wirkt - sie ist noch viel schöner.