Süddeutsche Zeitung

Terroropfer:Die Stille nach dem Anschlag

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Polizisten, Sachbearbeiter, Politiker verschanzen sich hinter Paragrafen, statt sich dem Leid der Opfer auszusetzen.

Von Annette Ramelsberger

Wenn die Betroffenen von Terroranschlägen berichten, wie mit ihnen danach umgegangen wurde, fragt man sich, ob man wirklich in diesem Land leben möchte. Gerade erzählen Opfer des Terroranschlags von Hanau im hessischen Landtag, und man will es kaum glauben. Da liegt der ermordete Sohn längst in der Rechtsmedizin, aber man lässt die Eltern über Stunden im Ungewissen, lässt sie hoffen, bangen, die Krankenhäuser abtelefonieren, bis ein Polizist dann im Morgengrauen eine Liste vorliest, "von denen, die es nicht geschafft haben". Immerhin: Die Liste war korrekt.

Dass ihr Verhalten den Vorschriften entspricht, scheint oft das Wichtigste zu sein für Amtsträger aller Art. Es ist ein deutsches Phänomen, im Zeitpunkt schlimmster Krisen stur allein das hochzuhalten, was im normalen Alltag nützlich sein mag, angesichts von Chaos und Verzweiflung aber absurd wirkt: Regeln, Paragrafen, Vorschriften, hinter denen sich Polizisten, Sachbearbeiter, selbst Minister verschanzen.

Da richtet der Richter nach fünf Jahren NSU-Prozess kein einziges Wort an die Familien, deren Angehörige getötet worden sind - nur um keinen Angriffspunkt für die Revision zu geben. Da unterstellten Versorgungsämter nach dem Oktoberfest-Attentat den schwer verletzten Opfern, sie täuschten ihre Beschwerden vor - nur wegen dieses Attentats werde man doch nicht strenge Regeln anders auslegen. Da scheuen Politiker wie der hessische Innenminister das direkte Gespräch mit den Angehörigen - zu viel zu tun und außerdem: Corona-Vorschriften. Man gewinnt den Eindruck, als seien Gefühle etwas, mit dem man sich kontaminieren könnte.

Dabei hilft es oft viel mehr, wenn ein Polizist einen menschlichen Satz sagt, ein Sachbearbeiter etwas ermöglicht statt verhindert oder sich ein Politiker dem Leid der Angehörigen einfach einmal aussetzt - als hinterher Erklärungen abzugeben, die in ihrer perfekten Kühle unangreifbar sind, aber wie ein Schlag nach dem Anschlag wirken.

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